Gehörlose in der Gesellschaft

Mit Händen sprechen, mit Augen hören

Vor etwa einem Jahr wurde in der österreichischen Verfassung eine zusätzliche Minderheitensprache verankert: Die Österreichische Gebärdensprache. Ein Akt von eher symbolischer Natur, denn speziell in Bildungsfragen sieht es für Gehörlose nicht gut aus.

"Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee" soll der bekannte Linguist Uriel Weinrich augenzwinkernd gemeint haben. Für viele Sprachen von Volksgruppen und Minderheiten, insbesondere für die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft, gilt das nicht.

Das zeigt das aktuelle Buch der Linguistin Verena Krausneker. In "Taubstumm bis gebärdenssprachig. Die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspektive", analysiert sie die gesellschaftliche Lage von Gebärdensprachigen in Österreich.

Die gebärdende Sprachminderheit in Österreich ist klein. Mit den Händen sprechen und mit den Augen hören in Österreich etwa 8.000 gehörlose Menschen. Dazu kommen schätzungsweise weitere 2.000 hörende Personen, meist Verwandte, Dolmetscher und Forscher, sagt die Linguistin Verena Krausneker: "Rund 90 Prozent der gehörlos geborenen Kinder haben hörende Eltern. Das heißt, die Eltern können ihrem Kind kaum oder nur sehr schwer ein sinnlich völlig fassbares Sprachsystem vermitteln."

Zweisprachiges Lebensumfeld

Als Erst- und damit Muttersprache der Kinder gelten sollte nämlich die Gebärdensprache des Landes, denn nur die können die Kinder ohne Verluste und Zusatzanstrengungen wahrnehmen, sagt Krausneker. Aktuelle Studien zeigen, dass gehörlose Kinder, die von Geburt an in einem gebärdensprachlichen Umfeld aufwachsen, dieselben Spracherwerbsphasen durchlaufen, wie hörende Kinder in einer lautsprachlichen Umgebung.

"Über die natürlich erworbene gebärdete Erstsprache lässt sich wohl auch leichter eine beliebige Lautsprache erwerben, etwa das Deutsche", so Krausneker, Vorstandsmitglied des Österreichischen Gehörlosenbundes. Sie bedauert, dass in Österreich der Erwerb der Gebärdensprache im internationalen Vergleich nicht hinreichend gefördert wird.

Problematische Bildungssituation

Derzeit gibt es in Österreich sechs Sonderschulen für gehörlose Kinder und Jugendliche, nicht einmal eine in jedem Bundesland. Von den etwa 240 Lehrenden, die Gehörlose unterrichten, sind nur vier Pädagoginnen gehörlos. Der Unterricht in der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) ist im Lehrplan dieser Schulen nicht verankert. Zudem werden nur stark mangelhafte Deutsch-Kenntnisse vermittelt.

Denn Studien über die lautsprachlichen Kompetenzen der gehörlosen Schulabgänger zeigen, dass diese im Alter von etwa sechzehn Jahren den durchschnittlichen Wortschatz eines sechsjährigen hörenden Kindes haben. Auch die Analphabetismusrate ist überdurchschnittlich hoch.

Krausneker zufolge ist der Hauptgrund, dass Lehrende, die an Gehörlosenschulen unterrichten, nicht die Gebärdensprache beherrschen müssen: "Das heißt, dass das derzeitige Lehrpersonal nicht in der Lage ist, die Fremdsprache Deutsch den Bedürfnissen gehörloser Schüler gemäß zu vermitteln."

In Österreich gibt es zudem kein spezielles Unterrichtsmaterial für gehörlose Kinder. Diese könnten Deutsch viel leichter erlernen, wären die Unterlagen optisch gut aufbereitet und auf ihre didaktischen Bedürfnisse zugeschnitten.

Arbeitsfreistellung und Gratis-Unterricht für Eltern

In Dänemark oder Schweden sei die Situation deutlich besser, dort wurden spezielle Lehrmittelzentren eingerichtet. Außerdem sichere man in den skandinavischen Ländern gehörlosen Kindern das Recht auf Sprache und mindere so den Anpassungsdruck.

"In diesen Ländern gibt es konkrete Angebote für die Eltern gehörloser Kinder. Etwa 400 bis 600 Stunden kostenlosen Unterricht in Gebärdensprache und Arbeitsfreistellung. Für Österreich ist das visionär zu sehen, dass für ein gerade geborenes gehörloses Kind staatlicherseits das Recht auf Sprache geregelt werden kann indem man den Eltern Angebote macht", sagt Krausneker.

Mehr zur Gebärdensprache in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Dimensionen, Freitag, 22. September 2006, 19:05 Uhr

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Buch-Tipps
Verena Krausneker, "Taubstumm bis gebärdenssprachig. Die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspektive", Drava Verlag, ISBN 8872230799

Österreichischer Gehörlosenbund (Hg.), Thomas Fellinger (Illustrationen), "Mein Tor in die Welt der Gehörlosen. Ein Sachbuch für Kinder", Österreichischen Gehörlosenbund, ISBN 3200000635

Oliver Sacks, "Stumme Stimmen. Reise in die Welt der Gehörlosen", Rororo Verlag, ISBN 3498062387

Links
Österreichischer Gehörlosenbund
Zentrum für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation
Diagnose Hörgeschädigt
World Federation of the Deaf