Widerstand der Worte
Samizdat und Tamizdat
Das Eintreten der Untergrundliteratur für Menschenrechte und Freiheit war in den Ländern Osteuropas entscheidend für das Ausbilden demokratischer Strukturen. Die Rebellion der Schreibmaschinen wurde andernorts durch eine boomende Blogging-Szene abgelöst.
8. April 2017, 21:58
Der Begriff "Samizdat" geht auf die russische Wortverbindung sam-sebja-izdat zurück, was so viel bedeutet wie: "Ich habe mich selbst herausgegeben". Samizdat wird auch als Selbstverlag übersetzt und meint überzeichnet: "Die Literatur, die sich nicht der Zensur unterwirft". Das Wort Tamizdat ist davon abgeleitet. Das russische Wort tam bedeutet dort. Tamizdat heißt also: "Was dort in der Emigration erscheint".
Die Samizdat-Bewegung der Dissidenten aus den ehemals kommunistischen Ländern Europas gibt sich im Rückblick als "Revolution am Papier" zu erkennen. Eine Revolution, die Jahrzehnte dauerte, im Stillen verlief und selbst von den an ihr Beteiligten nicht als solche erkannt wurde. "Ihr oberstes Prinzip war Gewaltlosigkeit, das Ziel nicht die Eroberung der Macht, sondern die Freiheit des Individuums", sagt der Historiker Wolfgang Eichwede, Leiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.
Für die Rechte des Einzelnen
Der Samizdat wurde zunächst in der Sowjetunion der 1950er Jahre geboren, etwas später gab es ihn im größeren Umfang auch in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und in der DDR. Zum Hauptanliegen der Dissidenten wurde schnell die Verwirklichung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen und nicht politisch-ideologische Konzepte.
Eines der bekanntesten Samizdat-Werke ist Aleksander Solschenizyns "Der Archipel Gulag". Das Werk versucht die gesamte Epoche des Stalinismus und seines Lagersystems aus der Sicht der Opfer zu erfassen. Boris Pasternaks Roman "Dr. Schiwago" ist das wohl erfolgreichste Werk des Tamizdat. Er erschien erstmals 1957 in Italien. In der Sowjetunion konnte das Buch erst mehr als zwei Jahrzehnte später - unter Gorbatschow - publiziert werden.
Riskantes Bürgerrecht
Die nicht-regime-konformen Texte wurden im Geheimen weiter gereicht und in kleinen Zirkeln gelesen. Wer Samizdat-Schriften las, erklärte sich dadurch bereit, weitere Abschriften anzufertigen. Berufsverbote und öffentliche Kampagnen zählten zu den eher harmlosen Mitteln der Verfolgung der Samizdat-Autoren. Oft kam es zu Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Verhaftungen und auch zu Morden, die nicht aufgeklärt wurden.
Die Chronik der laufenden Ereignisse
Eine ab 1968 erscheinende Samizdat-Publikation gilt heute für viele als Vorreiterin im Kampf für Menschenrechte und Pressefreiheit. "Die Chronik der laufenden Ereignisse" erschien fünfzehn Jahre lang. Schon die erste Nummer richtete für die politischen Gefangenen eine eigene Rubrik ein. Als Korrespondenten fungierten die Leser. "Neben Menschen mit journalistischem Know-how entstand in den kommunistischen Ländern so auch die Idee der Pressefreiheit. Als der Kommunismus zeitgleich in mehr als zwanzig Ländern zusammenbrach, standen bereits Menschen bereit, die demokratische Entwicklungen vorantreiben konnten," sagt Miklos Haraszti, einst ungarischer Dissident, später Parlamentarier und heute OSZE-Repräsentant für Pressefreiheit.
Samizdat und Tamizdat waren die Grundpfeiler für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in den ehemaligen kommunistischen Ländern. Als dieses Fundament in der Zeit des Kalten Krieges geschaffen wurde, erkannte das kaum jemand.
Bloggen statt Samizdat
Und heute? Existieren Samizdat und Tamizdat in Zeiten des so genannten "Krieges gegen den Terror"? "Ja", sagt die kanadische Soziologin Barbara Falk von der Universität von Toronto. In ihren Forschungsarbeiten beschäftigt sie sich unter anderem mit den Entwicklungen im Irak, im Iran, in Israel und Palästina, dem Libanon und Syrien. Sie schreibt dabei den Neuen Medien, vor allem dem Internet eine große Bedeutung zu - und verweist beispielsweise auf die seit einem Jahr ausufernde Blogging-Szene im Iran.
Auffällig sei, dass momentan der Anteil der Blogs mit sakulären und liberalen Inhalten stark Überhand nehme, sagt der Islamwissenschaftler und Arabist Albrecht Hofheinz von der Universität in Oslo: "Es ist auffällig, das die Autoritätsgläubigkeit bei den Internetnutzern geringer ist als bei ihren Eltern. Die Jungen sagen: Wir glauben nicht mehr alles, was uns vorgekaut wird, wir sind jetzt mündiger geworden und das führt eine gewissen Verantwortung mit sich."
Hofheinz forscht auch zum generellen Nutzungsverhalten der Internet-User in der arabischen Welt. Etwa zehn Prozent der dort ansässigen Bevölkerung gehen regelmäßig online, die größten Nutzerzuwächse werden bei Frauen und Jugendlichen verzeichnet. Neben dem Chatten wird das Internet vor allem wegen der Diskussionsforen genutzt: "Hier werden die drei großen traditionellen Tabuthemen thematisiert. Nämlich Sex, Religion und Politik."
Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 20. September 2006, 19:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Wolfgang Eichwede (Hg.), "Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre", Edition Themen, Bremen 2000, ISBN 3861083388
Links
University of Oslo - Albrecht Hofheinz
Canadian Forces College - Barbara Frank