Zwischen Nullwachstum und Minuswachstum
Shrinking Citys
In ganz Europa schrumpfen die Stadtzentren, während rundum die Speckgürtel aus Wohnsiedlungen, Einkaufs- und Vergnügungszentren und Arbeitsstätten wachsen. Dieser Prozess ist Thema der Architektur-Biennale in Venedig sowie einer Ausstellung in Eisenerz.
8. April 2017, 21:58
Bewohner der Europasiedlung in Eisenerz über ihre Zukunft
Die Stadtflucht ins grüne Umland ist heute - zumindest im reichen Westeuropa - eine Massenerscheinung. Im Gegenzug fehlt den Städten aber die bisherige Zuwanderung ländlicher Bevölkerung. Diese produziert keinen Geburtenüberschuss mehr und kann - mit dem Auto - alle Vorzüge der Stadt nutzen, ohne dorthin übersiedeln zu müssen. Ärmere kinderreiche Regionen mit zuwanderungswilligen Menschen finden sich nur noch weit außerhalb unserer nationalen Grenzen. Die Fremdenfeindlichkeit unserer Wohlstandsgesellschaft verhindert jedoch die eigentlich nötige, globale Migration. Die Folge sind schrumpfende Städte.
Rückbau der Städte
Ob Programme wie in Deutschland zum Stadtumbau und Stadtrückbau langfristig sinnvoll sind, wird sich noch weisen. Immerhin sprechen Demografen in der Bundesrepublik von einem jährlichen Zuwanderungsbedarf von 400.000 Menschen, um den Geburtenrückgang auszugleichen.
Insofern erscheint es sehr kurzsichtig, wenn selbst in den wirtschaftlich starken, westdeutschen Städten ungenutzter Wohnraum abgebaut wird - nur um den Immobilienmarkt zu bereinigen, sprich eine künstliche Wohnungsknappheit herzustellen. Die Erhaltung leer stehenden Wohnraums kostet Geld - am geförderten Abriss und am ebenfalls geförderten Neubau von Wohnungen lässt sich hingegen verdienen.
Untersuchungen in München und Hannover haben ergeben, dass 50 Prozent der jungen Familien, die aus der Stadt wegziehen, dies aufgrund der schlechten Umweltsituation tun. Der Lärm, die Abgase und die Allgegenwart des Autos scheinen also die zweite maßgebliche Ursache für das Schrumpfen der urbanen Zentren zu sein. Dazu kommen der Mangel an Grünflächen in gründerzeitlichen Gebieten und ein offensichtlich schlechter Wohnbau in den Neubaugebieten. - nicht nur dort, wo es sich um Plattenbauten handelt, sondern auch am Stadtrand von Linz, Graz oder Wien
Beispiel USA
Wie geht man außerhalb Mitteleuropas mit schrumpfenden Städten um? In den USA gilt Memphis als Paradebeispiel für die völlige Verödung und die nun initiierte Revitalisierung von Zentren. Die Hauptstadt von Tennessee war bis vor kurzem eine "Donut City" - also eine Stadt mit einem Loch in der Mitte, mit leer stehenden oder gerade noch von den untersten sozialen Schichten bewohnten Häusern, mit geschlossenen Läden und nahezu ausgestorbenen Straßen.
1,2 Milliarden Dollar an öffentlichen und privaten Investitionen flossen in die Aufwertung der Downtown - in den Gebäudeabriss, in die Gebäudesanierung, in die behübschte Fußgängerzone samt historisierender Tramway und vor allem in neue Großprojekte: für Shopping und Entertainment samt großzügiger Autoabstellplätze - adressiert an die Bewohner der Suburbs. Trotzdem ist das Zentrum von Memphis heute nach wie vor relativ unbelebt.
Beispiel Russland
In Russland werden Siedlungen, die sich nicht mehr rentieren schlicht und einfach liquidiert, so die offizielle Bezeichnung. Vor allem in den 1960er Jahren entstanden in Sibirien zahlreiche Städte zur Ausbeutung der reichen Bodenschätze. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war deren Versorgung mit Lebensmitteln und Sozialleistungen schlagartig nicht mehr finanzierbar. Die Bewohner wurden aufgefordert ihre Heimat zu verlassen.
Ausstellungen in Venedig und Eisenerz
Die 10. Architekturbiennale in Venedig steht derzeit unter dem Motto "Stadt. Architektur und Gesellschaft". Im Zentrum der Aufmerksamkeit sind dabei die Porträts von 16 Megacitys von Tokio bis Mexiko Stadt. Einen Kontrapunkt setzt in dem Zusammenhang das deutsche Projekt "Schrumpfende Städte / Shrinking Cities", das globale Phänomene der Schrumpfung von Stadtkernen thematisiert.
Die Partnerausstellung dazu findet derzeit im steirischen Eisenerz statt. Der obersteirische Ort ist ein Paradebeispiel für den Schrumpfungsprozess einer im Umbruch befindlichen Bergbau- und Industriestadt.
Eisenerz war 1951 eine Stadt mit rund 13.000 Einwohnern, wobei etwa 4.000 von ihnen bei der Voest-Alpine Erzberg GmbH angestellt waren. Nach der Stahlkrise Ende der siebziger Jahre wurden stetig weniger Arbeiter am Erzberg gebraucht, denn der Abbau wurde angesichts billigerer Abbaustätten unattraktiv.
Der Eisenerzer Bürgermeister Gerhard Freiinger (SPÖ) hat in einem Interview mit der Wochenzeitschrift "Falter" kürzlich von einem "Finanzbedarf von rund EUR 1,6 Millionen" für die Infrastruktur gesprochen. Wegen des Bevölkerungsschwunds will die Erzberg-Gemeinde ab dem Frühjahr 2007 rund 500 Wohnungen beseitigen und 700 umfunktionieren. Bisherige Wohnflächen sollen großzügigen Grünflächen weichen, die genauen Pläne werden derzeit in einem Ideenwettbewerb ermittelt. Im Rahmen dieser Initiative wurde auch die Ausstellung "Umbruch Aufbruch" organisiert.
Mehr zur Architektur-Biennale in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 16. September 2006, 17:05 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
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Veranstaltungs-Tipps
Architektur-Biennale, "Städte. Architektur und Gesellschaft", Sonntag, 10. September bis Sonntag, 19. November 2006, Venedig
Ausstellung "Umbruch. Aufbruch", Samstag, 9. September 2006 bis Sonntag, 10. Dezember 2006, Eisenerz
Links
Architekturbiennale
Umbruch. Aufbruch
Schrumpfende Städte