Eine Dokumentation zu Wiesenthals 100. Geburtstag
Schuld und Sühne
"Es gibt keine größere Sünde, als zu vergessen", hat Simon Wiesenthal einmal gesagt. Anhand von akribisch gesammelten Informationen sowie Augenzeugenberichten von NS-Opfern kämpfte er zeitlebens hartnäckig für Gehör und Recht.
8. April 2017, 21:58
Zeit seines Lebens blieb Simon Wiesenthal seinem Credo treu, die Kriegsverbrecher der NS-Zeit der Gerechtigkeit zuzuführen. Rund 3.000 Fällen ist der Gründer des Jüdischen Dokumentationszentrums nachgegangen und erhielt dafür höchste Ehren.
Simon Wiesenthals Denkschrift
Am 6. März 1966 erzielt die ÖVP bei der Wahl zum österreichischen Nationalrat erstmals seit dem Jahr 1945 die absolute Stimmenmehrheit. Die SPÖ unter Bruno Pittermann büßt ebenso Mandate ein wie die FPÖ unter der Führung des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Friedrich Peter. Simon Wiesenthal, der in Wien seit den frühen 1960er Jahren das "Dokumentationszentrum des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes betreibt, nimmt den Machtwechsel an der Staatsspitze zum Anlass, dem neuen Bundeskanzler Josef Klaus eine Denkschrift zu übermitteln.
Unter dem Betreff "Schuld und Sühne der NS-Täter aus Österreich" regt der ehemalige KZ-Häftling an, "das bereits stark geschwächte internationale Ansehen Österreichs wiederherzustellen". Gelitten, so meint Wiesenthal, habe das Ansehen Österreichs, weil die Zweite Republik die bequeme Formulierung vom "ersten Opfer Hitlers" auf ihre Fahnen geheftet und die Beteiligung der Österreicher an den Nazi-Gräueln verdrängt habe. Von einer ÖVP-Alleinregierung erwartet sich Wiesenthal eine größere Handlungsbereitschaft im Umgang mit den österreichischen NS-Tätern.
Wiesenthal wird enttäuscht. Die Bereitschaft, über die Mitschuld von Österreichern innerhalb des Naziregimes zu urteilen, hält sich damals in der Alpenrepublik weiterhin in Grenzen.
Die Begründung seines Memorandums
Im Begleitbrief zu seinem dreißigseitigen Memorandum an Bundeskanzler Klaus erläutert Simon Wiesenthal, dass ihn mehrere Besprechungen mit Beamten des Innen- und des Justizministeriums zum Verfassen der Denkschrift bewogen haben. Wiesenthal führt aus, dass der relative Anteil der Österreicher an der Bevölkerung des "Großdeutschen Reiches 8,5 Prozent ausgemacht habe. Der Prozentsatz von Österreichern, die unter dem NS-Regime Anteil an "der jüdischen Tragödie der Jahre 1938 bis 1945 hatten, sei jedoch bedeutend höher. Die Verbrechen blieben aufgrund der mangelhaften Verfolgung von Seiten der Republik Österreich zu einem großen Teil ungesühnt. Wiesenthal dazu im Memorandum: "Der sowohl großen Anzahl als auch großen Schuld der NS-Täter aus Österreich steht eine merkwürdig kleine Zahl von Beamten des Innenministeriums und Staatsanwälten gegenüber.
Dem Bundeskanzler schlägt Simon Wiesenthal vor, die Zahl an Beamten im Innenministerium aufzustocken und das Budget für Recherchen und Zeugeneinvernahmen zu erhöhen. Schließlich: Wer weiß besser als Simon Wiesenthal, wie kosten- und zeitintensiv die Nachforschungen sind, um in aller Welt jene Mosaiksteine zusammenzutragen, die die Grundlage für Verhaftungen und Anklagen von Tätern darstellen?
Akribische Recherchen
Wiesenthals Rekonstruktion der im öffentlichen Bewusstsein verschütteten Untaten und sein Aufspüren ihrer Urheber basiert auf einer ausgeklügelten Mischung aus Gedächtnisleistung, akribischer Recherche und feinsinniger Kombination. Da werden Augenzeugenberichte und Fotos gesammelt, wichtige Informationen mitunter auch teuer erkauft. Das Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes bewahrt bis heute einen Kasten voller angegilbter Karteikarten auf, auf denen akribisch Spenden vermerkt sind, die aus der ganzen Welt in Simon Wiesenthals Tätigkeit fließen.
In Deutschland gibt es keinen Wiesenthal. Dort stehen sehr wohl ausreichende Mittel für die Recherche zur Verfügung.
So argumentiert Wiesenthal in eben jenem Memorandum an Bundeskanzler Klaus. Auch in Österreich sollten mehr Staatsanwälte beauftragt werden, Verfahren gegen NS-Verbrecher bis zur Prozessreife zu betreiben, urgiert er. In Deutschland übernehmen diese Aufgabe Personen wie Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der die Anklage gegen die Auschwitz-Verantwortlichen in Frankfurt prozessreif macht.
Wiesenthals Forderungen
Simon Wiesenthal mahnt in seinem Memorandum die Vertreter des österreichischen Staates zur Reform der gesetzlichen Grundlage für die Verfolgung von Nazi-Verbrechen. Die Geschworenengerichte seien rechtspolitisch und praktisch problematisch. Er fordert ein Gesetz, das sowohl ehemalige Nationalsozialisten als auch ehemals politisch Verfolgte als Geschworene ausschloss.
Aufgrund dieser Initiativen bezeichnet der österreichische Zeithistoriker Gerhard Botz, dem Wiesenthal sein Dossier über das 1966er Memorandum zur Veröffentlichung überantwortet hat, Wiesenthals Tätigkeit als die eines "zivilgesellschaftlichen Rechts- und Geschichtspolitikers.
Späte Ehren
Simon Wiesenthal bleibt seinem Credo, dass die Täter der NS-Zeit der Gerechtigkeit zugeführt werden müssen, bis ins hohe Alter treu. Letztendlich wird das Engagement des Unermüdlichen auch von allerhöchster Staats-Stelle gewürdigt, als Bundespräsident Heinz Fischer dem gebrechlichen Greis das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich um den Hals legt.
Was aber wäre gewesen, wenn in Österreich mehr Wille zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bestanden hätte? Dann wäre Simon Wiesenthal wohl wieder zu seinem erlernten Beruf als Architekt zurückgekehrt. Ergo: Ohne Österreich kein Wiesenthal und ohne Wiesenthal kein Österreich. Oder, wie der immer pointiert formulierende Simon Wiesenthal in einem Radiointerview 1985 meint: "Hitler war ja schließlich auch kein Eskimo.
Mehr zu Simon Wiesenthal in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 16. September 2006, 9:05 Uhr
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