Evamaria Trischak über GPS-Expeditionen in Wien
48 Grad Nord und 16 Grad Ost
Beim GPS-Projekt 4816 mischt sich die Faszination für Abstraktes mit Abenteuergeist. So wie man als Kind die Gegend mit dem Fahrrad erkundet, wird bei 4816 Wien durch die Ansteuerung von Minutenschnittpunkten zum Abenteurerterrain.
8. April 2017, 21:58
Beim GPS-Projekt 4816 mischt sich die Faszination für Abstraktes und Mathematisches mit Abenteuergeist. Durch die Ansteuerung eines Minutenschnittpunktes begibt man sich auf eine Reise durch Wien. Das Ziel ist zwar bekannt, doch wo wird der Minutenschnittpunkt genau sein? Ist er zugänglich? Was wird den Punkt auszeichnen? Und welche Orte in der Stadt entziehen sich dem öffentlichen Zugang?
Bei den ersten Exkursionen in der Betatest-Phase erwiesen sich etwa Punkte auf der Donau, in Gebäuden, in Privatgärten oder auch innerhalb eines weitläufigen Industriegeländes im Süden der Stadt als bislang unzugänglich.
Orte finden und fotografieren
Bis Mitte September 2006 wurden bereits über 50 der Minutenschnittpunkte erfolgreich angesteuert. Der Punkt N 48 Grad 11,000' E 16 Grad 19,000' ist ein Beispiel für einen dieser 185 Kreuzungspunkte. Als geodätische Grundlage dient dem GPS-System WGS84 (World Geodetic System 1984). Die Schnittpunkte sind im Wiener Stadtraum auf der Nord- Süd-Achse 1,852 km (eine Seemeile), auf der Ost-West-Achse ca.1,25 km voneinander entfernt. Ziel bei 4816 ist es, alle diese Orte mit Hilfe eines GPS-Geräts aufzusuchen und fotografisch zu dokumentieren.
Wien liegt im GPS-Koordinatensystem 48 Grad nördlich des Äquators und 16 Grad östlich des Nullmeridians. Deshalb beginnen im Wiener Stadtraum sämtliche Koordinaten mit N 48 Grad E 16 Grad - diese Tatsache inspirierte zu dem Namen des kürzlich gestarteten Wiener GPS-Projektes 4816. 185 Minutenschnittpunkte werden dabei angesteuert und auf der 4816- Webpage dokumentiert, die Teilnahme ist offen für alle.
Kognitive Karten
Die aufgesuchten Orte werden einerseits auf der Homepage festgehalten und andererseits auch im Stadtplan der persönlichen Wahrnehmung neu registriert. In diesem Zusammenhang spricht man auch von kognitiven Karten, ein Begriff der um 1800 geprägt wurde.
Als kognitive Karte (bzw. mental GIS, mental map) wird das Wissen eines Menschen über seine individuelle räumliche Umgebung bezeichnet. Es gibt etwa eine Tendenz, das Zentrum einer Stadt besonders dominant im Kopf gespeichert zu haben. Allerdings gibt es in Wien nur einen 4816-Punkt im 1. Bezirk, im Zentralfriedhof dagegen zwei.
Kognitive Karten erweisen sich als weniger beeinflussbar wie Papier, die Donau etwa habe ich trotz der intensiven Beschäftigung mit dem Wiener Stadtraum unbeirrt als nördlich liegend in meiner kognitiven Karte registriert. Dabei handelt es sich um ein weit verbreitetes Merkmal der mentalen Karten: es wird gerne N-S-O-W-ausgerichtet und begradigt, wo eigentlich krumme Linien zu finden sind.
Neue Sichtweise der Stadt
Bei 4816 spielt der Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie keine Rolle, jeder der Punkte ist in der Matrix gleichwertig. 4816 fordert dazu auf, herkömmliche Wege in der Stadt zu verlassen. Der Raster, der so über die Stadt gezogen wird, ist von der historisch gewachsenen Ordnung des Straßensystems und von sozial beeinflussten Vorlieben unabhängig. Bisher nicht beachtete Punkte in der Stadt bekommen eine neue Wertigkeit, während klassische Sehenswürdigkeiten, Treffpunkte oder Ausflugsziele in diesem System belanglos werden.
Räumliche Verhältnisse können bei der Beschäftigung mit 4816 in der individuellen mentalen Karte neu strukturiert werden. Persönliche Zentren im Stadtgefüge und individuellen Navigationslinien werden verlassen um Punkte der 4816-Matrix zu orten. Die Künstlergruppe "Situationistische Internationale" prägte für die experimentelle Untersuchung von geographischen Umgebungen und ihren Einflüssen auf die menschliche Wahrnehmung Ende der 50er Jahre den Begriff "Psychogeographie". In dieser Tradition liefert 4816 eine Diskussionsgrundlage für die Beschäftigung mit dem öffentlichen Raum in Wien.
Projektdauer von einem Jahr
Daniel Kehlmann, der Autor des Romans "Die Vermessung der Welt", beschreibt die Faszination im aktiven Umgang mit Kartografie in seinem Artikel "Fingerreisen": "Ob der Mensch verreist oder zufrieden zu Hause bleibt; ob er die Zentren der Macht kartografiert oder die schwarzen Löcher sozialer Ausgeschlossenheit; ob er mit einem Bleistiftstrich Grenzziehungen besiegelt oder die Ränder der bekannten Welt mit drohenden Ungeheuern bevölkert - immer macht er sich die Welt untertan, ordnet die Welt nach seinen Vorstellungen und schafft sich so neue Welten." (du672 - Weltkarten. Eine Vermessenheit. Zeitschrift für Kultur Nr. 11/12, Dezember 2005, Januar 2006. Sulgen, Schweiz: Verlag Niggli. S. 19)
Mein persönliches Ziel innerhalb von 4816 ist es, den Grenzverlauf von Wien zu erkunden. Derzeit ist für 4816 eine Laufzeit von einem Jahr geplant - Punkte können so auch im Ablauf der Jahreszeiten dokumentiert werden. Ein Punkt kann auch mehrmals von verschiedenen Teilnehmenden dokumentiert werden.
Teilnehmen können alle Interessierten mit Zugang zu entsprechendem Equipment (Fotoapparat, GPS-Gerät, Internet). Welche noch nicht einkalkulierten Erschwernisse auftreten können wird sich erst zeigen. Meine Schätzung bezüglich der erreichbaren 4816-Punkte lag vor der Betatest-Phase bei 50 Prozent Erreichbarkeit der Kreuzungspunkte, mittlerweile liegt meine Schätzung bei 80 Prozent. Es wird interessant zu beobachten, wie lange es dauert, bis alle 4816-Punkte erkundet sind.
Mag. Evamaria Trischak ist Informatikerin und Künstlerin in Wien und Projektleiterin von 4816. Sie beschäftigt sich seit 2003 mit dem Global Positioning System.
Hör-Tipp
Matrix, Sonntag, 17. September 2006, 22:30 Uhr
Download-Tipp
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Link
4816