Die Wiedergeburt New Yorks
Fünf nach Zero
New York hat sich in den fünf Jahren seit den Terroranschlägen verändert. Die Opfer und Helden von 9/11 sind vergessen. Was nicht zum positiven Image beiträgt, zeigt Marc Pitzke in seinem Buch, wird ausgegrenzt oder an die Peripherie verbannt.
26. April 2017, 15:09
Der in New York lebende deutsche Journalist Marc Pitzke erzählt eine Reihe von Geschichten über die verschärften Lebensbedingungen nach 9/11 für Menschen mit außereuropäischen Wurzeln. Jene des jungen Rechtsanwalts Amardeep Singh etwa, eines Sikh, der auf der Straße ständig als Osama angesprochen wird. Für ihn und seine 40.000 Glaubensgenossen ist es mitunter gefährlich geworden, sein Viertel im Stadtteil Queens zu verlassen.
Diskriminierung von Muslimen und Arabern
Bei einer Befragung von Muslimen und Arabern in New York gaben neulich 79 Prozent der Befragten an, sie fürchteten sich mehr um ihr Wohlergehen als früher, vermieden den Kontakt mit der Öffentlichkeit und hängten ihren Glauben nicht mehr an die große Glocke. Eine Frau aus Pakistan wurde mit den Worten zitiert: "Ich lebe in Angst im Land der Freiheit."
Das gilt nicht nur für Muslime, sondern für alle, die für Muslime gehalten werden. Amardeep Singh hat mit anderen Betroffenen eine Selbsthilfegruppe gegründet und versucht, der Aggression mit Aufklärung zu begegnen - mit Erfolg, denn die Übergriffe haben im Lauf der fünf Jahre seit den Anschlägen deutlich abgenommen. Geblieben ist die Diskriminierung am Arbeitsplatz. Muslime, vermeintliche oder echte, gelten nach wie vor für viele Dienstgeber als Sicherheitsrisiko.
Luxus boomt
New York hat sich in den fünf Jahren seit den Terroranschlägen verändert, so viel steht fest, auch wenn die Stadtverwaltung unter Bürgermeister Michael Bloomberg den Schein der Normalität wahrt. Einerseits hat sich der viel zitierte Melting-pot New York, der so ziemlich alle Ethnien versammelt, die auf der Welt zu finden sind, zu einem Ort des furchtsamen Nebeneinanders entwickelt.
Andererseits wird in der Stadt so viel Geld umgesetzt und ausgegeben wie nie zuvor. Nachdem kurzfristig die Börse, der Immobilienmarkt und der Tourismus zusammengebrochen waren, ist die Nachfrage nach Luxuswohnungen im Moment kaum zu befriedigen, verzeichnet der Kunsthandel Rekordumsätze und wird mit Aktien wieder eine Menge Geld verdient.
Politischer Profiteur Bloomberg
Bürgermeister und Milliardär Michael Bloomberg ist der politische Profiteur von 9/11. Sein Vorgänger Rudy Giuliani war der Held, aber Bloomberg, alles andere als ein Mann des Volkes, ist der Abstauber, der aus der geschundenen Stadt wieder eine Glitzermetropole gemacht hat - mit dem aufwändigsten Polizeiapparat der Welt und mit der Vertreibung der Armen oder Armutsgefährdeten an die Peripherie. Bloomberg interessieren auch nicht mehr die Helden von 9/11, die Feuerwehrleute, Polizisten und freiwilligen Helfer, die heute an den Folgen der Staub- und Schwermetallbelastung leiden.
Später identifizierten Wissenschaftler und Umweltforscher die Zusammensetzung des Staubs. Er bestand unter anderem aus Asbest, Aluminium, Barium, Blei, Chrom, Magnesium, Mangan, Titan, Quecksilber, Kerosin, Isolierwolle, Zement, Glas, Hartfasern, Holz, Plastik, Dioxin Papier und aus etwas, was sie respektvoll "organische Komponenten" nannten: Leichenteile.
Schweigen über der Stadt
Mit einem hoch dekorierten Polizisten wie James Zadroga, dessen Lungen nach dem Einsatz zerstört waren und der unter Depressionen litt, wollte sich kein Politiker mehr fotografieren lassen. Zadroga starb mit 34 Jahren. Er hinterließ 50.000 Dollar Schulden, weil er für die Kosten der Behandlungen selbst aufkommen musste.
Es ist wie nach dem Blitzkrieg über London, erinnert sich mein Bekannter Stephen, ein Exilbrite, Psychiater und noch Teil der älteren Kriegsgeneration. Ein Schweigen hat sich über die Stadt gelegt, eine seltsame Stille. Man spricht nicht mehr darüber. Man tut so, als sei nichts gewesen.
Nur nicht zurückschauen
Marc Pitzkes Reportagen aus New York im Jahr 5 nach dem Terror handeln gerade von dieser Kluft zwischen jenen, die schweigen, und jenen, die an diesem Schweigen verzweifeln. New York nach 9/11 hat sich im Grunde genauso entwickelt, wie viele Städte und Länder nach Katastrophen, die im ersten Moment unüberwindbar erscheinen. Der Schock wird abgelöst von einem geradezu hysterischen Drang, in die Zukunft zu blicken, egal in welche, Hauptsache, man muss sich nicht mehr umdrehen und zurückschauen.
Wirtschaftlich steht New York da wie schon lange nicht mehr, es wird konsumiert und investiert, das Stadtbudget der jahrzehntelang chronisch verschuldeten Stadt soll sogar einen Überschuss aufweisen. Zugleich haben immer weniger New Yorker Grund, sich von der Zukunft etwas zu erwarten. Während eine dünne Schicht Reicher ihren Reichtum zelebriert und so die Fassade der pulsierenden Stadt aufrecht erhält, die von keinem Osama bin Laden beschädigt werden kann, verarmen immer mehr Familien aus der Mittelschicht. Und von den Opfern von 9/11 ist ohnehin nicht mehr die Rede. Was sich nicht als Heldenepos verkaufen lässt, trägt nichts zum Image des wieder auferstandenen New York bei. Diesen Zynismus streicht Marc Pitzke in seinen Reportagen dankenswerterweise heraus.
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Buch-Tipp
Marc Pitzke, "Fünf nach Zero. Der 11. September und die Wiedergeburt New Yorks", Herder Verlag, ISBN 3451056925