Identität durch freien Wissenserwerb

Pflicht, Privileg oder Menschenrecht?

Intellektuelles und praktisches Wissen gewinnt in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. Doch werden wir dieser gerecht? Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, publiziert dieser Tage im Zsolnay-Verlag ein Buch zum Thema.

Bildung setzt Urteilsvermögen und kritische Distanz gegenüber dem Informationsangebot voraus. Wissen ist ein Hilfsmittel zur Bildung, aber nicht ihr Ziel. Bildung entsteht beim Weitergehen, durch Tradition, worauf das lateinische Verb tradire verweist. Bildung beginnt damit, dass ich etwas durch einen anderen Menschen erhalte. Der Mensch wird gebildet, damit der Mensch sich selbst bilden kann.

Bildung bewirkt Identität. Man bildet sich aber nicht nur um seiner selbst Willen, sondern auf die anderen, auf die Gesellschaft zu. Doch diese große Bildungsidee scheint bei den aktuellen Diskussionen zum Thema Bildungsreform immer mehr zu verblassen. Sie droht sogar abgelöst zu werden.

Kommerzialisierung von Wissen

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, publiziert dieser Tage im Zsolnay-Verlag ein Buch zum Thema mit dem provokanten Titel "Theorie der Unbildung". Liessmanns These: Vieles was von Soziologen, Pädagogen und Bildungspolitikern unter dem Titel "Wissensgesellschaft" proklamiert wird, erweist sich genauerer Betrachtung als eine rhetorische Geste. Die so genannte "Wissensgesellschaft" sei weniger einer Bildungsidee verpflichtet, als vielmehr der Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens. Weil auch der Bildungsbereich zunehmend ökonomisiert werde, orientiert man auch die Bildungskonzepte demgemäß.

Dieser Umgang mit Wissen stellt - zumindest ideell - mit den Bildungskonzeptionen, die seit der Antike über die Renaissance, den Humanismus, und die Aufklärung bis in das späte 19. Jahrhundert entwickelt worden sind.

Unverständnis durch eingeschränkte Selbstreflexion
Ein neues Problem der Bildung in der Moderne hat der renommierte deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig folgendermaßen formuliert. "Das Grundproblem unserer Welt ist, dass wir sie zwar gemacht haben, sie aber nicht mehr verstehen. Wir sind krank an dem Missverhältnis von Wissen und Einsicht, von Machen und Handeln. Die Schule, die aus dem Leben in das totale Klassenzimmer ausgewandert ist, belehrt nicht mehr über die Welt; sie lässt nur eine eingeschränkte Selbsterfahrung zu."

Die Prorektorin der Universität Erlangen-Nürnberg und evangelische Theologin Johanna Haberer sieht die Bildung in einer Krise, weil in der Explosion der fachlichen Wissensgehalte zunehmend das Orientierungswissen vernachlässigt werde. Das freie unabhängige Denken drohe in den Vernutzungsstrategien zu kurz zu kommen. Auf das Orientierungswissen werde es jedoch in Zukunft immer mehr ankommen.

Welche Bildung wollen wir heute unseren Heranwachsenden vermitteln? Dieser Frage ist Hartmut von Hentig in seinem viel beachteten Essay "Bildung" nachgegangen. Darin schlägt er sechs Bildungsziele vor:

  • Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit
  • Die Wahrnehmung von Glück
  • Die Fähigkeit und der Wille sich zu verständigen
  • Einbewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz
  • Wachheit für letzte Fragen
  • Die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica
Bedeutung humanistischer Bildung
Ein Mensch ist dann gebildet, wenn er sich in seiner Kultur, Tradition und Gesellschaft auskennt, wenn er über sich nachdenken und Verantwortung übernehmen kann, Visionen hat und Ziele verfolgen kann. "Es gibt keine Bildung ohne die historische und spirituelle Dimension des Menschen", sagt Johanna Haberer. Mag dies zunächst nach einem romantischen Bildungsideal klingen - es ist aber gültiger denn je und hat praktischen Nutzen.

In den Spitzen der Personalabteilungen großer Wirtschaftsunternehmen finden sich zunehmend Personen, die eine breit angelegte humanistische Bildung erfahren haben. Ihnen wird - dank ihrer Bildung - offenbar mehr zugetraut, in unübersichtlichen Transformationsprozessen die Situation besser zu beurteilen und die weitsichtigeren Entscheidungen zu treffen.

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Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung "Salzburger Nachtstudio", vom Mittwoch, 6. September 2006, 21:01 Uhr nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipps
Konrad Paul Liessmann, "Theorie der Unbildung", Zsolnay-Verlag, ISBN 3552053824

Hartmut von Hentig, "Bildung. Ein Essay", Beltz, ISBN 3407221584