Boltzmann und die moderne Physik

Depressiver Fortschrittsoptimist

Ludwig Boltzmann gilt als einer der Wegbereiter der modernen Physik. Er begründete die Statistische Mechanik und beschäftigte sich mit Fragen zur Entropie, der zunehmenden Unordnung im Universum. Boltzmann schied am 5. September 1906 aus dem Leben.

Er liebte Beethoven, studierte bei Anton Bruckner Klavier, setzte sich gegen absurde Rechtschreibreformen zur Wehr, stellte vielen seiner physikalischen Schriften ein Schiller-Zitat voran, war Vater von fünf Kindern, extrem kurzsichtig, litt zeitlebens an Asthma und Depressionen und setzte seinem Leben im Alter von 62 Jahren während eines Kuraufenthaltes im italienischen Duino bei Triest freiwillig ein Ende.

Physiker an der Zeitenwende
Mit Ludwig Boltzmanns Selbstmord am 5. September 1906 verlor die Habsburger-Monarchie einen ihrer renommiertesten Physiker. Boltzmann arbeitete an einer wissenschaftlichen Zeitwende. Das mechanische Weltbild Newtons, dem Boltzmann anhing, war Ende des 19. Jahrhunderts im Begriff sich zu verabschieden. Mit seinen fundamentalen Arbeiten zur kinetischen Gastheorie und Thermodynamik vollendet Ludwig Boltzmann das Gebäude der klassischen Mechanik und entwickelte gleichzeitig mathematische Werkzeuge für die moderne Physik des 20. Jahrhunderts. Damit wurde Ludwig Boltzmann zu einem unbewussten Geburtshelfer der Quantenphysik.

Verfechter der Atomtheorie
Boltzmann ist, ganz im Gegensatz zum Wiener Positivisten Ernst Mach, ein glühender Verfechter der Atomtheorie und baut auf ihr seine wesentlichen Arbeiten zur kinetischen Gastheorie und Thermodynamik auf und sollte damit letztlich Recht behalten. Denn 1905 kann Albert Einstein mit seiner Arbeit zur "Brownschen Molekularbewegung" die Existenz von Molekülen bzw. Atomen nachweisen - ein Jahr vor Ludwig Boltzmanns Selbstmord. Umso erstaunlicher ist es, dass Boltzmann allem Anschein nach von dieser Arbeit keine Notiz mehr genommen hat.

Mit seiner berühmten „Transportgleichung“ zeigt Ludwig Boltzmann, wie jeder beliebige Anfangszustand in einem Gas im Laufe der Zeit einen Wärmegleichgewichtszustand einnimmt. Warum also z.B. eine Tasse Kaffe im Laufe der Zeit auskühlt, um schließlich Raumtemperatur anzunehmen. Ein fundamentales Problem existierte allerdings: Mechanische Prozesse sind reversibel, thermodynamische Prozesse nicht! Wie kann man also Mechanik und Thermodynamik in einem theoretischen System zusammen bringen?

Die Lösung dieses Problems führt Boltzmann zu einer Neudefinition der Entropie als Maß für die Zunahme der Unordnung in einem physikalischen System. Damit kann er erstmals mathematisch exakt beschreiben, warum Naturprozesse - vom Auflösen eines Zuckerwürfels in Kaffee bis zum „Wärmetod des Universums", sofern es denn ein abgeschlossenes System ist, irreversibel sind, also zeitlich nicht umkehrbar sind.

Wissenschaftliche Ausnahmeerscheinung
Ludwig Boltzmann wird am 20. Februar 1844 in Wien geboren. Es ist die Nacht vom Faschingsdienstag auf den Aschermittwoch, auf den Straßen verhallen die Musikklänge einer rauschenden Ballnacht. Diese Geburtstunde nannte Boltzmann später selbst als Grund für seine Stimmungsschwankungen.

Als Ludwig Boltzmann 15 ist, stirbt der Vater. Die Mutter opfert für die Ausbildung der Kinder ihr gesamtes Familienvermögen. Schon im Gymnasium zeigt Ludwig großes Interesse an Physik und eine außergewöhnliche Begabung für Mathematik. Gemeinsam mit seinem Bruder arbeitet er einen Beweis für den Pythagoräischen Lehrsatz aus. Er studiert an der Universität Wien Mathematik und Physik. Von seinem Lehrer Josef Stefan wird er mit der Maxwellschen Elektromagnetismus und dem Atomismus vertraut gemacht.

Zwischen Graz und Wien
Bereits als 25-Jähriger wird Boltzmann zum Ordentlichen Professor an die neu errichtete Lehrkanzel für mathematische Physik an die Karl-Franzens-Universität in Graz berufen. 1873 kehrt er für drei Jahre als Professor für Mathematik nach Wien zurück, um dann wiederum 14 Jahre am Institut für Experimentalphysik in Graz tätig zu sein.

Nach den 14 Jahren, die Ludwig Boltzmann in Graz verbracht hat, folgen ein vierjähriges und sechsjähriges Gastspiel in München und Wien, anschließend ist Boltzmann zwei Jahre in Leipzig tätig. Ab 1902 nimmt der akademische Wandervogel in Wien seine letzte Lehrtätigkeit auf.

Konflikt mit Ernst Mach
Ab 1903 übernimmt er von seinem wissenschaftsphilosophischen Antipoden Ernst Mach die zweistündige Vorlesung über Naturphilosophie. Im Gegensatz zu Ernst Machs sensualistischem Positivismus vertritt Ludwig Boltzmann einen hypothetischen Realismus. Als Wissenschaftsphilosoph räumt er damit der Theorie den Vorrang vor der Sinneserfahrung ein. Mit den hauptamtlichen Klassikern der Philosophie steht der Physiker größtenteils auf Kriegsfuß.

Bis 1990 war Boltzmanns Vorlesung über Naturphilosophie im genauen Wortlaut unbekannt. Der Physiker pflegte seine Gedanken in der Gabelsberger Kurzschrift niederzuschreiben. Ilse Fasol hat in Jahre langer Übersetzungsarbeit die schwer lesbaren Stenogramme ihres Großvaters entziffert. Darunter befinden sich auch zahlreiche kleine Notizbücher aus Ludwig Boltzmanns Nachlass, die die Enkelin nun nach und nach dechiffriert.

Hör-Tipps
Dimensionen, Montag, 4. September 2006 und Dienstag, 5. September 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Veranstaltungs-Tipp
Vortrag "Boltzmann und das neue Kelvin", 19. September, 18:30 Uhr, Institut für Experimentalphysik der TU Graz

Link
Jahrestagung d. Österr. Physikalischen Gesellschaft