Wie Sprache das Denken beeinflusst
Von linken und südlichen Füßen
Sprache gilt vielen als das entscheidende Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Speziell der Vergleich mit außer-indoeuropäischen Kulturen zeigt deutlich, wie sehr Sprache, Kultur und Denkensart einander beeinflussen.
8. April 2017, 21:58
Ein sommerliches Picknick in einer grünen Wiese, plötzlich bemerken Sie die Ameisenstraße, der Sie zu nahe gekommen sind und machen einen Ihrer Freunde mit den Worten: "Pass auf, da krabbelt etwas vor deinem rechten Fuß" darauf aufmerksam - bei Ihrem Visavis gälte die Warnung dem linken Fuß. Nicht so bei Aborigines im Norden Australiens, dort wäre es in beiden Fällen "der südliche Fuß", sie verwenden anstelle von "rechts" und "links" Himmelsrichtungen, um die Lage von Gegenständen zu beschreiben.
Relative und absolute Bezugsrahmen
Statt relativ zum Betrachter oder zu einem anderen Gegenstand haben diese Menschen einen absoluten räumlichen Bezugsrahmen, an dem sie sich ausrichten. Entsprechend genau geeicht ist ihr "innerer Kompass". Mitten im Wald gefragt, wo ihr Haus steht, zeigen sie in die exakt richtige Richtung.
In diesem Fall bestimmt die Sprache - räumliche Orientierungen über Himmelsrichtungen zu beschreiben - die kognitiven Fähigkeiten der Menschen - die Genauigkeit ihres "inneren Kompasses". So zumindest lautet die These von Linguisten und Anthropologen, die die Lebensweise der Aborigines untersuchen - und die damit neuen Stoff für eine alte Diskussion liefern: Was passiert mit einem Kind, das wie Kaspar Hauser ohne Sprache aufwächst? Wie entwickeln sich die kognitiven Fähigkeiten so eines Menschen, ist er zum Beispiel in der Lage, sich an seine Vergangenheit zu erinnern oder seine Zukunft zu planen?
Diese Frage berührt ein zentrales und bis heute heftig umstrittenes Gebiet der Linguistik - und die alte wissenschaftlich-philosophische Überlegung, wie und wie sehr sich Sprache und Denken gegenseitig beeinflussen.
Wer hat recht?
"Wortschatz und Struktur jeder Sprache wirken sich auf das Denken aus", behaupteten Benjamin Whorf und Edward Sapir in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ganz in der Tradition Wilhelm von Humboldts, der die Sprache als "das bildende Organ des Gedankens" bezeichnet hatte. Der Anthropologe Whorf war nach seiner Untersuchung der nordamerikanischen Hopi-Indianer zu diesem Schluss gekommen. Die Hopi hatten seiner Einschätzung nach keine Worte für zeitliche Zusammenhänge und deshalb auch ein "zeitloses" Weltbild. Whorfs Interpretationen sollten sich später allerdings als fehlerhaft herausstellen.
"Sprache und Denken sind zwei getrennte geistige Fähigkeiten, die Sprache hat keinerlei Wirkung auf kognitive Vorgänge" - so behaupteten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unter anderen berühmte Linguisten wie Noam Chomsky oder Steven Pinker.
Aktuelle Positionen
Gegenwärtig erfährt das Konzept von der Wirkung sprachlicher auf geistige Strukturen eine Renaissance, sagt der deutsche Sprachforscher Ludwig Jäger. Dazu muss man nicht unbedingt den Vergleich wenig verwandter Sprachen und Kulturen heranziehen. Auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft heißt es oft: "Die Grenzen deiner Sprache sind die Grenzen deiner Welt". Wie ein Mensch spricht, lässt auch auf seine Art, die Welt zu sehen, schließen. Wie ein Kind zu sprechen lernt, strukturiert diesen Theorien zufolge sein Denken.
Interessant für den Sprachwissenschafter Ludwig Jäger ist nicht nur, wie sich Sprache in gesprochener oder geschriebener Form auf das Denken auswirkt - sondern auch die Frage, inwieweit andere Arten der Kommunikation, wie zum Beispiel die Gebärdensprache das Denken prägen könnten. Dabei geht es nicht nur um die vielfältigen Ausprägungen der Sprache für Gehörlose heute, sondern auch um die Frage, wie die Sprache beim Menschen vor einigen Jahrzehntausenden überhaupt entstanden ist.
Manche Paläoanthropologen vermuten, dass die Gebärdensprache in der Evolution der erste Schritt zur Kommunikation war, aus der sich erst mit der Zeit die Fähigkeit, sich mithilfe von Wörtern, Syntax und Grammatik dem anderen mitzuteilen entwickelt hat. Diese These wird auch von neueren Erkenntnissen der Neurobiologie unterstützt.
Außereuropäische Beispiele
Sprache gilt vielen als das entscheidende Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet und bewusstes Denken als "inneres Gespräch mit sich selbst" erst möglich macht. Speziell der Vergleich mit außer-indoeuropäischen Kulturen zeigt Wissenschaftern deutlich, wie sehr Sprache, Kultur und Denkensart einander beeinflussen.
Ein weiteres Beispiel dafür liefern, einmal mehr, Menschen, die lange Zeit kaum Kontakt zu anderen Volksgruppen hatten und eine völlig eigenständige Sprache entwickelt hatten: die Piraha im brasilianischen Amazonasgebiet. In ihrer Sprache gibt es keine Wörter für Zahlen außer "eins", "zwei" und "viele" - numerische Zusammenhänge können die Piraha nur grob schätzen. Richtig zählen lernen erwachsene Piraha auch mit Anleitung nordamerikanischer Anthropologen nicht - und zwar schlicht, weil sie es nicht brauchen und nicht wollen, meinen die Forscher.
Mehr zur Gebärdensprache in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 4. September 2006 bis Donnerstag, 7. September 2006, 9:05 Uhr
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