Lazarsfeld und die empirische Sozialforschung
Beobachten, erheben, deuten
Seine Studie über die Arbeitslosen von Marienthal galt als bahnbrechend. Lazarsfeld ist Begründer der empirischen Sozialforschung, Pionier der Radioforschung und Mitbegründer des Instituts für höhere Studien. Sein Todestag jährt sich heute.
8. April 2017, 21:58
Heinz Kienzl war vom Zigarrenrauch des Amerikaners genervt. Er war gerade in die erste Kuratoriumssitzung des Instituts für Höhere Studien berufen worden und kannte seinen Sitzungsnachbarn nicht, bis dieser aufgerufen wurde. "Herr Lazarsfeld!".
Kienzl fiel vor Schreck fast vom Sessel. Er hatte die Aufsehen erregende Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" aus den 1930er Jahren gelesen und sicher angenommen, dass der Jude und Sozialdemokrat von den Nationalsozialisten ermordet worden war. Später nahm er seinen Mut zusammen und sagte "Das freut mich aber, dass Sie leben!". "Wie? Was?" soll der aus den USA angereiste Sozialwissenschafter gefragt haben.
Die Arbeitslosen von Marienthal
So heißt die berühmte Studie über Langzeitarbeitslose, die Lazarsfeld gemeinsam mit Marie Jahoda und Hans Zeisel im heutigen Gramatneusiedl durchführte. "Das Ergebnis war, dass die Arbeitslosen in Hoffnungslosigkeit versinken und nicht revolutionär werden und sich dann jedem Gauner an die Brust werfen. Das hat mich außerordentlich beeindruckt", sagt Kienzl von der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft für Sozialforschung. "Das war eine Pionierstudie", meint der Soziologe Christian Fleck von der Universität Graz. Ihre Ergebnisse seien noch heute gültig und man könne sie ohne große Vorbildung lesen. Auch das mache sie so einzigartig.
Untersuchung der McCarthy-Ära
Weniger bekannt ist, dass Lazarsfeld eine bemerkenswerte Studie über die Auswirkungen des "McCarthyism" verfasst hat, der Hexenjagd auf angebliche kommunistische Spione durch Senator McCarthy in den 1950er Jahren. Zuletzt durch den 2005 gedrehten Film "Good Night and Good Luck" (von und mit George Clooney) wieder ein Thema von öffentlicher Relevanz.
Der Film erzählt vom Widerstand einiger Journalisten des Sender CBS, die eine Konfrontation mit McCarthy wagten, obwohl sie dadurch Sendung und Karriere aufs Spiel setzten. Frank Stanton, der Direktor von CBS, wendete sich - trotz großen Drucks von außen - nicht gegen seine Mannschaft. Dieser Frank Stanton war ein langjähriger Kollege und dann auch Freund von Lazarsfeld. Die Freundschaft ging zurück auf die Zusammenarbeit beim "Princeton Radio Research Project", dem ersten großen Projekt, das Lazarsfeld in den USA leitete.
Pionier der Radioforschung
Das Radio begann in den USA in den 1920er und 1930er Jahren das dominante Medium zu werden. Man hatte aber keine Ahnung, wie es wirkt. "Es passierte das Gleiche wie später beim Fernsehen und beim Internet: Man fürchtet, dass das neue Medium zum Kulturverfall beiträgt", so Fleck. Lazarsfeld erforschte die Emotionen und Vorlieben der Hörer. Mit dabei war ein großer Theoretiker, der Philosoph Theodor Adorno, der seine Arbeit immer wieder heftig kritisierte.
"Er hat immer gesagt", erinnert sich Kienzl, "beachte folgenden Grundsatz: Man muss den Stimmlosen eine Stimme geben. Er meinte damit, Politiker können sich wichtig machen, aber was denken die kleinen Leute? Mit den Meinungsumfragen kann man ihnen eine Stimme geben, ein Gehör, indem man ihre Meinung an die Öffentlichkeit bringt."
Mitbegründer des IHS
Interessanterweise war Lazarsfeld auch die Elite ein Anliegen. Er war an der Gründung des Instituts für Höhere Studien in Wien, des damaligen Ford-Instituts, beteiligt. Die Gründungsidee des IHS ist mit dem heutigen Exzellenz- oder Eliteprojekt in Maria Gugging durchaus vergleichbar. Mit einer Einschränkung: Lazarsfeld wollte eine Ausbildungseinrichtung für die Jungen schaffen, weil er bei früheren Besuchen in Österreich festgestellt hatte, dass das intellektuelle Niveau katastrophal war. "No brains, no initiative, no collaboration", schrieb er in einem Brief nach Amerika.
Lazarsfeld hat sein Leben lang sehr viele Ideen und unterschiedliche Projekte verfolgt. Aber ein roter Faden zieht sich durch sein Werk: Er wollte eine Erklärung für menschliches Handeln finden. Was haben der Kauf einer bestimmten Sorte Seife und die Wahl einer Partei gemeinsam? Was passiert, bevor man sich entscheidet?
Entdecker der opinion leader
Lazarsfeld versuchte das Handeln empirisch zu erklären. Er entdeckt die "opinion leader" - die Meinungsführer -, die Entscheidungen massiv beeinflussen. "Das erscheint heute banal, aber irgendwann musste das erst einmal jemand herausfinden", sagt Christian Fleck vom Institut für Soziologie der Universität Graz. Er bereitet derzeit für den Suhrkamp-Verlag zwei Bücher über Paul Lazarsfeld vor, eines mit dem Titel "Empirische Analyse des Handelns". Fleck stößt damit in eine Lücke: Bücher über Lazarsfeld sind rar und die wenigen, die es gab, sind seit langem vergriffen. Erstaunlich, denn schließlich ist er der Begründer der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung.
Mehr dazu in einem Artkel von Christian Fleck in science.ORF.at
Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 30. August, 19:05 Uhr
Buch-Tipps
Christian Fleck, "Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung empirischer Sozialforschung", stw, Frühjahr 2007
Christian Fleck und Nico Stehr (Hg.), "Paul F. Lazarsfeld, Empirische Analyse des Handeins. Ausgewählte Schriften" Übersetzt von Hella Beister, stw, Frühjahr 2007
Links
Karl Franzens Universität Graz - Lazarsfeldbiografie
Karl Franzens Universität Graz - Christian Fleck
Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft