Starke Frauen, schwache Männer
Böse Schafe
Katja Lange-Müller befasst sich in ihrem neuen Roman mit einer ernsten Thematik: Eine Frau opfert sich für einen Drogensüchtigen auf. Weil Lange-Müller aber auch den Humor nicht zu kurz kommen lässt, ist "Böse Schafe" ein durchaus gelungener Roman.
8. April 2017, 21:58
Im alten Westberlin treffen zwei Menschen aufeinander: Soja kommt aus dem Osten und arbeitet aushilfsweise in einer Blumenhandlung, der heroinsüchtige Westberliner Harry saß zehn Jahre im Gefängnis und hat mit dem Abbruch einer Drogentherapie gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, weshalb er schnellstens eine neue Therapie beginnen muss. Dennoch übt er eine seltsame Anziehungskraft auf Soja aus, die umgehend tätig wird und energisch versucht, Harrys Leben in geordnetere Bahnen zu lenken.
Katja Lange-Müller befasst sich in ihrem Roman mit dem Titel "Böse Schafe" mit einer Thematik, die ihr nicht ganz fremd ist - schließlich arbeitete sie selbst lange Jahre auf einer psychiatrischen Station und konnte ganz ähnliche Fälle aus nächster Nähe beobachten: "Da habe ich diese wirklich ungeheuer energischen, gestandenen, zum Teil omnipotenten Frauen erlebt, die verschiedener gar nicht hätten sein können, die nur eines gemeinsam hatten: die waren alle irgendwie ziemlich patent und zupackend."
89 Sätze
Soja lässt nichts unversucht, um Harry vor sich selbst zu beschützen. Sie aktiviert ihren gesamten Bekanntenkreis, um Harry rund um die Uhr zu überwachen und ihn zu den Therapiesitzungen zu bringen, sie vernachlässigt ihr eigenes Leben und widmet sich ganz und gar der Aufgabe, so umfassend wie möglich für Harry da zu sein - sowohl tagsüber als auch nachts.
Harry nimmt ihre Bemühungen hin, aber nach und nach stellt sich heraus, dass er ihr so einiges verschwiegen hat - etwa, dass er nicht nur unter Hepatitis B und C leidet, sondern auch noch HIV-positiv ist. Aber nicht einmal diese Enthüllung kann Soja in ihrem Eifer bremsen. Erst lang nach Harrys Tod findet sie ein Heft, in dem Harry in 89 Sätzen seine eigenen Empfindungen zu jener Zeit niedergeschrieben hat - und in dem nirgends von Soja die Rede ist.
Über mich, Harry, kein Sterbenswort, nicht einmal hier, in dieser vergleichsweise ausführlichen Passage deiner Aufzeichnungen – oder wie du das nennst. Warum bin ich abwesend, als wären wir einander nie begegnet? Mein einer, der freundlichere, Verdacht ist, dass du befürchtet hast, das Heft könnte bei einer Hausdurchsuchung, einer neuerlichen Festnahme, einem überraschenden Besuch von alten Bekannten... in fremde, also falsche Hände geraten; und um diesem Fall vorzubeugen, jede, auch nur vage in meine Richtung deutende Textinterpretation von vornherein auszuschließen, hieltest du es für notwendig, mich komplett zu unterschlagen. Meine andere, dir kein edles Motiv zubilligende und für mich selbstredend schmerzhaftere, aber mit der ersten durchaus kompatible Vermutung ist die, dass ich dir so gleichgültig war wie alles auf der großen weiten Welt, außer deinem Lebenselixier und der Angst davor, wieder im Knast zu landen.
Gratwanderung zwischen Ernst und Humor
Dieses Heft mit Harrys Aufzeichnungen bildet so etwas wie das Gerüst, an dem sich der Roman entlang rankt. Soja versucht, die Lücken zu füllen, die Einträge im Heft mit ihren eigenen Erinnerungen zu verbinden und dadurch auch eine Erklärung für die Geschehnisse zu finden.
Katja Lange-Müller hat sich bei ihrer Arbeit auf eine Gratwanderung begeben, die ihr selbst nicht immer leicht gefallen ist. Dennoch ist "Böse Schafe" kein schweres oder bedrückendes Buch, denn die Autorin versteht es meisterhaft, die Balance zwischen Komik und Tragik zu halten. Mit viel Witz und Ironie schildert sie Sojas beinahe missionarischen Eifer, Harry zu retten und gibt dem düsteren Thema dadurch eine fast beschwingte Note.
Menschliche Abgründe
Diese Gratwanderung, das Jonglieren mit Widersprüchlichkeiten, drückt sich schon im Titel aus, den Katja Lange-Müller aus dem Mund eines Betroffenen übernommen hat: "So ein Junkie in so einer Gruppe, den sie da unheimlich attackiert haben, der sagte dann irgendwann 'Jetzt hört aber mal auf, da wird ja sogar ein Schaf böse.' Und da habe ich gedacht, ach, böses Schaf, das ist irgendwie schön."
"Böse Schafe" ist ein durch und durch gelungener Roman - ein Buch mit Witz und Herz, das menschliche Abgründe auslotet aber nicht verurteilt, und dessen Protagonisten in ihren Worten, Gedanken und Handlungen zwar teilweise unlogisch erscheinen mögen, aber letztlich immer nachvollziehbar bleiben. Und schließlich ist "Böse Schafe" auch ein wunderbarer Berlin-Roman, der die Stadt thematisiert, ohne sich ihr aufzudrängen. Ein Buch also, das ruhig mehr als 200 Seiten hätte haben dürfen.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Katja Lange-Müller: "Böse Schafe”, Verlag Kiepenheuer und Witsch