Texte mit Experimentalcharakter
Konrad Bayer
Konrad Bayer ist ein bekannter, aber wenig gekannter Dichter. Er gehörte zur Wiener Gruppe. Sein früher Tod hat sein Leben und sein Werk irgendwie verklärt, zu einem Mythos gemacht und man liest viele seiner Texte auch von diesem Ende her.
8. April 2017, 21:58
Konrad Bayer nützte auch die Möglichkeiten des Dialekts.
Das Werk Konrad Bayers ist untrennbar mit der Wiener Gruppe verbunden. Auch wenn es darin Texte gibt, die man als Drama, als Erzählung oder als Gedicht bezeichnen könnte, so ist es doch unmöglich, diese Gedichte nach den herkömmlichen Methoden zu analysieren. Es gibt keine genau kontrollierbaren Inhalte. Wer an die Literatur Bayers so herangeht, dass er meint, eine genaue Bedeutung analysieren zu können, der wird vor den Kopf gestoßen, und wer nicht nach Bedeutung fragt, die den Alltagsdiskurs 1:1 wiedergibt, der wird nicht nur über diese Art von Literatur vieles lernen, sondern er wird über Literatur, ihre Herstellung, vor allem auch über die Sprache an sich und ihre Verfahren viel lernen können.
Zelle der Avantgarde
Diese Texte werden nicht mit Inhalten, die man für die charmante Konversation bequem ummünzen kann, gefüllt, sie machen Verfahren bewusst, die für die Kommunikation und mehr noch für die Störung der Kommunikation sehr aufschlussreich sind.
Bayers Texte sind auch im Zusammenhang mit anderen Werken, die von den Mitgliedern der Wiener Gruppe verfasst wurden, zu lesen. Die fünf Autoren der Wiener Gruppe bildeten eine sehr lockere Gemeinschaft, die sie im Jahre 1953 begannen und die durch Gemeinschaftsarbeit - das ist das Entscheidende - bis Ende der 1950er Jahre die Zelle der Avantgarde bildete.
"Intersprachliche" Flucht
Das Werk, für das Konrad Bayer allein als Verfasser zeichnet, lässt sich schwer nach den traditionellen Genres - Lyrik, Drama, Erzählung - fassen. Am besten ist es in diesem Zusammenhang, den wertneutralen Terminus "Text" zu verwenden.
Zu Beginn gibt es Texte, die sehr deutlich Experimentalcharakter zur Schau tragen, etwa das Gebilde "flucht". Dieser Text eignet sich ausgezeichnet dazu, die Leistungen und Grenzen der experimentellen Dichtung aufzuzeigen. Der Text besteht aus einer einzigen langen Zeile. "flucht" ist ein Text, der sehr wohl eindringlich das Wesen einer Flucht beschwört, aber jenseits aller realistischen Gestaltung. Entscheidend ist, dass die einzelnen Worte gleichsam ineinander geschoben werden, da bleibt kein Platz für das Zeitwort, mit dem man notwendigerweise erzählen muss, es sind nur Hauptworte oder Eigenschaftsworte.
Der Text beginnt mit "Lauf Schritt Weisen Draht Verhau" usw. Das letzte Wort ist dann das erste Verbum und das steht in der Nennform: "töten". Wir haben eine Fluchtbewegung, aber eine "intersprachliche" Fluchtbewegung.
Das Selbstverständnis der Avantgardeliteratur
Mein Lieblingstext ist eine Folge von 26 Kurztexten, "26 namen". Jedem Buchstaben des Alphabets ist ein Name und ein Kurztext zugeordnet. Ich möchte mich hier auf den Text mit dem Titel "georg, der läufer" konzentrieren, weil er sehr schön zeigt, wie das Selbstverständnis dieser Poesie, dieser Avantgardeliteratur zu fassen ist.
er lief durch die stadt, seine lungen brannten, er keuchte und sein atem war heiß und pfiff so vor sich her. georg, der läufer, war ein unmoderner Charakter, ihm fehlte jeder privatbesitz. er hatte keine ökonomische funktion in einer ökonomischen welt, deshalb lief georg seit 29 jahren so vor sich her, so alt war er. (...) nachdem er viele länder und erdteile durchlaufen hatte, lief er auf eine große wiese zu. eine dicke staubwolke folgte ihm etwas langsamer. um die wiese saßen und standen viele menschen, die ihre taschentücher schwenkten. aus den augenwinkeln bemerkte der läufer rechts und links weiße schatten, die sich in seiner staubwolke verloren. so gewann er die weltmeisterschaft 1952 über 10.000 meter im olympiastadion von helsinki. aber als man ihm zum zeichen seines sieges den lorbeerkranz um den hals hängen wollte, hatte er die grenzen des landes, finnland, längst verlassen. an seiner stelle wurde der läufer zátopek als sieger geehrt.
Eine Anekdote, die sehr schön zeigt, dass diese Art von Poesie sich nicht in die Wettbewerbsstimmung unserer Zeit einordnen lässt, ein Akt der künstlerischen Verweigerung; in einer ökonomischen Welt hat diese Literatur wenig oder keinen Platz.
Eingestürzte Sphären
Konrad Bayer Texte zu interpretieren erfordert eine ungeheure interpretatorische Energie. Man kann sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, man kann sie auch nicht auf den Nenner der bloßen Opposition gegen Bestehendes bringen.
Wir haben ein Zeugnis, das meiner Meinung nach am schönsten zeigt, wie verstörend und zugleich belebend Konrad Bayers Texte wirkten. Er hat 1963, ein Jahr vor seinem Tod, bei der legendären Gruppe 47 vor einem "hochkarätiges" Auditorium vorgelesen. Unter den Kritikern befand sich auch ein großer Philosoph, Ernst Bloch. Ich kenne wenige Stellen, an denen die Literatur Bayers so präzise gefasst wurde wie in dieser Diskussion. Bloch sagte: "Das ist etwas Österreichisches, aber etwas, das uns betrifft und das nicht nur pure Spielerei ist." Und am Ende: "Die Sphären sind eingestürzt. Das Verabredete hört auf." Das ist noch viel deutlicher als wenn man sagte, die Konventionen hören auf. Hier beginnt eine neue Sprache und diese neue Sprache der Literatur bei Konrad Bayer sollte man als solche sehr ernst nehmen.
Hör-Tipp
Literarische Außenseiter, Freitag, 25. August 2006, 22:15 Uhr
Download-Tipp
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Link
Wikipedia - Konrad Bayer
Übersicht
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