Erinnerungsbuch von Günter Grass

Beim Häuten der Zwiebel

Es ist ein starkes Erinnerungsbuch, das Günter Grass da vorgelegt hat. Es ist flammende Selbstanklage und farbsattes Zeitpanorama in einem. Grass ist und bleibt ein Könner, untadelig auch im kritischen Blick auf sich selbst und seine Biografie.

Günter Grass blickt auf seine frühen Jahre zurück. Die zur Genüge diskutierten Passagen über des Schriftstellers Intermezzo bei der Waffen-SS nehmen einige wenige Seiten ein in einem Buch, in dem der Nobelpreisträger "wortreich gemiedene Wörter" endlich aussprechen möchte. Grass tut das, um es vorwegzunehmen, auf ganz und gar überzeugende Weise.

Zwei Dezennien, in denen eine Menge passiert ist

Die Jugenderinnerungen des Nobelpreisträgers setzen mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ein, Grass war damals zwölf, und enden mit der Veröffentlichung der "Blechtrommel" Ende der 1950er Jahre. Zwei Dezennien, in denen eine Menge passiert ist, auch in der Biografie des Kolonialwarenhändlersohns aus dem Danziger Stadtteil Langfuhr.

"Der Junge, der ich war", nennt Grass sich selbst im Rückblick. Er scheint dem Dichter fremd zu sein, dieser Junge, der als begeisterter Jungvolk-Pimpf die Lieder der Zeit schmetterte - "Unsere Fahne flattert uns voran", der mit angehaltenem Atem die Wochenschau-Berichte vom siegreichen Vormarsch der Wehrmacht im Westen verfolgte.

Flammende Selbstanklage

Grass' Autobiografie ist eine Selbstanklage, eine unverhohlene Selbstbezichtigung: Der Autor wirft sich vor, als Kind nicht oft genug nachgefragt zu haben. Als der Vater eines Schulkameraden ins KZ Stutthof kam etwa. Oder als sein Lateinlehrer, ein katholischer Priester, von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwand.

Ich war ein Jungnazi, gläubig bis zum Schluss. (...) Um den Jungen, der ich damals war, zu entlasten, kann nicht einmal gesagt werden: Man hat uns verführt! Nein, wie haben uns, ich habe mich verführen lassen!

Grass wechselt immer wieder zwischen Ich- und Er-Form hin und her in seinem Text, oft innerhalb einiger weniger Absätze. Sein Buch ist raffiniert strukturiert, flammende Selbstanklage und farbsattes Zeitpanorama in einem.

Ausbildung zum Panzerschützen

Vor allem scheint sich Grass nicht verzeihen zu können, dass er sich einst mit 15 freiwillig zum Dienst mit der Waffe gemeldet hat. "Ginterchen", wie seine kaschubische Großtante ihn nennt, will zu den U-Booten, er wird aber, weil zu jung, vom Dienst zurückgestellt. Der Halbwüchsige wird Luftwaffenhelfer vor den Toren der Stadt, nur zwei oder drei Mal hat er Gelegenheit, sich an den 8,8-Geschützen, an denen man ihn ausgebildet hat, zu erproben.

Es folgen einige Monate als Arbeitsdienstmann - das mächtig pubertierende "Ginterchen" bekämpft aufsprießende Pickel mit Pitralon und Mandelkleie - als plötzlich der Einberufungsbefehl auf dem elterlichen Esszimmertisch liegt. In Berlin soll sich Arbeitsdienstmann Grass melden, dort wird dem 17-Jährigen dann ein Marschbefehl zugeschoben. Reiseziel: Dresden. Von dort geht's im Herbst 44 weiter auf einen Truppenübungsplatz der Waffen-SS in die böhmischen Wälder. In der nach einem Landsknechtführer aus den Bauernkriegen benannten Division "Jörg von Frundsberg" soll der begeisterte Jung-Nazi als Panzerschütze ausgebildet werden.

Der Erinnerung misstrauen

Grass weiß, dass man sechs Jahrzehnte post bellum keine klaren Grenzen mehr ziehen kann zwischen Fakten und Fiktion. Der Erinnerung ist zu misstrauen, das postuliert der Autor immer wieder. Und so bietet er seine Kriegserlebnisse in Form zusammenhangloser Erinnerungsfetzen dar: die gnadenlose Schleiferei im Ausbildungslager, die Massenentlausung in der Hygienebaracke, die Fahrt im Güterwaggon an die niederschlesische Front, endlose Flüchtlingstrecks und an Chausseebäumen baumelnde Wehrmachtssoldaten...

Er habe während seiner Kriegszeit keinen einzigen Schuss abgegeben, behauptet Grass. Keine Rede von Sengen und Mordbrennen, von Massenerschießungen, Judenmorden, Massakern an Zivilisten. "Ginterchen" stolpert, wenn man seinen Schilderungen trauen darf, durch das Kampfgetöse wie weiland Grimmelshausens Simplicius durch den Dreißigjährigen Krieg. Irgendwo in der Lausitz wird er verwundet. Er erholt sich in einem Lazarett, gerät in amerikanische Kriegsgefangenschaft - und beginnt sich allmählich mit den Irrtümern seiner jungen Jahre auseinanderzusetzen.

Unverwechselbare Sprache

Das alles schildert der deutsche Nobelpreisträger in seiner unverwechselbaren Sprache, dem charakteristischen Grass-Idiom aus langen, in eigentümlichen Wortverbindungen sich windenden Sätzen. Man kann diesen Stil manieriert nennen, mit gleichem Recht aber lässt sich die saftige Anschaulichkeit der Grass'schen Prosa loben, ihr grimmiger Witz, ihre bärbeißige Selbstironie.

Es ist ein starkes Erinnerungsbuch, das Günter Grass da vorgelegt hat. Als "moralische Instanz" - zu der andere ihn ernannt haben - mag Grass durch das jahrzehntelange Verschweigen seiner SS-Zugehörigkeit Schaden genommen haben. Als Schriftsteller hat sich der 79-Jährige nichts vorzuwerfen. Grass ist ein Könner, bleibt ein Könner, untadelig auch im kritischen Blick auf sich selbst und seine Biografie.

Mehr zu Günter Grass in oe1.ORF.at]
Begegnung mit Günter Grass
"Die Verantwortungen liegen hier im Diesseits"
"Ich hoffe, dass das Buch sich mitteilen wird"
"Froh, dass es draußen ist"
Beim Häuten der Zwiebel
Stimmen zu Grass-Geständnis I
Stimmen zu Grass-Geständnis II

Hör-Tipps
Im Gespräch, Donnerstag, 18. Oktober 2007, 21:01Uhr

Buch-Tipp
Günter Grass, "Beim Häuten der Zwiebel", Steidl-Verlag, ISBN 3865213308

Mehr dazu in oe1.ORF.at

CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop

Links
Wikipedia - Günter Grass
Günter Grass Stiftung
Verlag Steidl