Blumen, zwei Bänke, ein Holztisch

Begegnung mit Günter Grass

Nach all der Aufregung um Grass' SS-Vergangenheit, eingestanden in seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel", hat sich der Autor in ein Refugium zurückgezogen. Michael Kerbler hat ihn dort, auf der Insel Moen, besucht.

Zum 80. Geburtstag

Ein Refugium auf der dänischen Insel Moen. Zwischen Meer und Naturschutzgebiet duckt sich ein kleines Fachwerkhaus mit Reetdach. Blumen. Zwei Bänke. Ein Holztisch. Darauf liegen eine Tabaksdose, Zünder, eine Pfeife und ein Exemplar des Buches "Beim Häuten der Zwiebel". Günter Grass kommt. Der Mann, der mit seiner Autobiografie ein Stück seines Lebens nachvollziehbar machen wollte und große Themen wie Erinnern, Vergessen und Verdrängen, die Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration und - ganz besonders - die Gefahr der Verführbarkeit der Jugend durch Ideologien oder Heilsbotschaften anspricht, sieht sich mit massiver, auch verletzender Kritik konfrontiert.

Wie angespannt wird er sein, denke ich mir kurz, wie verbittert, vielleicht gar gereizt?

Sich messen lassen

"Sie sind etwas zu früh dran", sagt er und reicht mir die Hand zum Willkommen. Er blickt auf die Armbanduhr. Der Aufbau der Technik für das Interview interessiert ihn, lenkt ab und bietet doch die Möglichkeit zum Vorgespräch. Wie die Debatte in Österreich geführt wird. Wer welche Position vertritt.

Was treibt Grass an, sich so schonungslos der Diskussion zu stellen? Verletzbar zu sein, ausgesetzt allen, die endlich eine Chance sehen, alte Rechnungen zu begleichen. Einen Grund nennt er im Buch gleich auf Seite acht: "... weil ich das letzte Wort haben will." Grass ist auch offen, sich messen zu lassen. Später im Gespräch wird er es klar aussprechen. "Die Verantwortungen liegen hier im Diesseits, hier messe ich mich und soll ich auch gemessen werden. Ich bin nicht bereit, irgendetwas auf spätere Gnade oder auf ein Leben nach dem Tode und andere Spekulationen zu schieben."

Erinnerung an Brausepulver

Immer hat er es abgelehnt, eine Autobiografie zu verfassen. Das würde bloß eine Lügengeschichte werden, zitiere ich aus der mitgebrachten "Neuen Zürcher Zeitung" vom Mai 1998. Grass lacht. Ja, er lacht.

Ich greife in die Sakkotasche. Und finde das Brausepulver. Ja, jenes Brausepulver, das damals drei Pfennige das Tütchen kostete. Es schmeckt nach Himbeere oder Waldmeister. Und Oskar Matzerath ließ es so schön aufschäumen mit Maria. Grass erkennt die Brausepäckchen, lächelt breit. Ein stilisierter blauer Matrose ziert die Brause-Verpackung. Wie damals, im Sommer 1940.

Vier Jahre später trägt Grass die SS-Uniform. "Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig."

Gefangen in "dieser Ideologie"

Die Frage, die immer wieder im Sommer 2006 an den Literaturnobelpreisträger gerichtet wurde, lautet "Warum erfolgte erst so spät die Offenlegung der Zugehörigkeit zur Waffen-SS?" Zu dieser Einheit hatte sich Grass nicht freiwillig gemeldet, er war im Frühjahr 1944 zur Division "Jörg von Frundsberg" einberufen wurden. Den Amerikanern hatte er nach seiner Gefangennahme die Zugehörigkeit zur "Frundsberg"-Division gestanden. Warum also sein langes Schweigen?

Günter Grass "Im Gespräch": "Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich gefangen war in dieser Ideologie, als Hitlerjunge, und bis zum Schluss wie ein Idiot an den Endsieg geglaubt habe. Ich habe im Gegensatz zu vielen anderen mich nicht als nachträglicher Widerstandskämpfer aufgespielt. Man kann das als Versäumnis ansehen, dass ich nicht darüber gesprochen habe. Ich konnte es nicht. Es steht im Buch drin. Es lag bei mir wie verkapselt. Ich habe auch nicht schlüssige Erklärungen dafür. Ich will das auch nicht verteidigen in dem Sinne. Und ich bin auch froh, dass es jetzt draußen ist. Es brauchte seine Zeit."

"Alles nur Etikettierungen"

Grass setzt seine Worte mit Bedacht. Er überlegt, nutzt die Zeit, die es braucht, um an der Pfeife zu ziehen, die Fragen zu bedenken.

Hat er durch die späte Klarstellung seiner Biografie an Ansehen als moralische Instanz verloren? Seine Sitzhaltung wird kerzengerade und die Antwort kommt schnell: "Man hat mich als politisches Gewissen oder als Wappentier der Nation und all das bezeichnet. Das sind alles Etikettierungen, die von außen gekommen sind. Und das wird nun in Abrede gestellt. Ich kann sagen, ich bin dankbar dafür. Ich habe das nie für mich in Anspruch genommen. Aber ich werde natürlich weiter als Bürger wie als Schriftsteller, so lang ich noch bei Puste bin, meine Meinung dazu sagen und auch dafür einstehen. Ob das dann akzeptiert wird oder nicht, das ist nicht in meiner Hand. Das ist vorher schon fraglich gewesen. Was jetzt in der Öffentlichkeit läuft, ist sicher auch aus dem Wunsch geboren, etwas, was man zum 'Gewissen der Nation' ernannt hat, loszuwerden."

Grass häutet die Zwiebel. Und geht hart mit sich ins Gericht. Weil er keine Fragen stellte, als Jugendlicher. Wo etwa der - von den Nazis erschossene - kaschubische Onkel denn geblieben sei. Warum in Danzig die Synagogen brannten. Da verkroch er sich lieber in den "Simplicissimus" und Vicki Baums "Stud. chem. Helene Willfüer" und in die Bücher von Tolstoi und in Remarques "Im Westen nichts Neues". Immunisiert gegen Krieg und Gewalt hat ihn die Remarque-Lektüre nicht. Ernüchtert notiert Günter Grass in seiner Autobiografie: "Immer wieder erinnern mich Autor und Buch an meinen jugendlichen Unverstand und zugleich an die ernüchternd begrenzte Wirkung der Literatur."

Dagegenhalten

Grass überlebt mit viel Glück diesen Weltkrieg. Und er beginnt als US-Kriegsgefangener nach einem Besuch des ehemaligen KZ Dachau langsam die grauenvollen Dimensionen des NS-Regimes zu begreifen. Es dauerte, bis "ich mir zögerlich eingestand, dass ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke."

Da sitzt ein Mann, der dagegenhalten will, der bereit ist, den Spießrutenlauf zu ertragen. Weil er hofft, dass letzten Endes das Buch den längeren Atem hat. "Mein ganzes Leben - mein literarisches Leben und mein Leben als engagierter Bürger - ist der permanente Versuch gewesen, diesen Frühprägungen meiner jungen Jahre zu entkommen. Und daraus meine Konsequenzen zu ziehen. Entsprechend zu handeln, zu schreiben und mich zu verhalten. Und das zählt bei mir am Ende. Und ich glaube fest, dass das Buch sich mitteilen wird."

Abschied nach drei Stunden

Nach zweieinhalb Stunden notiert der Schriftsteller in das Rezensionsexemplar, das vor ihm auf dem Holztisch liegt "... mit Dank für das intensive Gespräch zu einem Thema, das kein Ende findet."

Das Aufnahmeteam packt zusammen. Grass' Frau bringt die Post, ein paar dringende Briefe. Er fasst ihre Hand. Erzählt, wie schlecht die Pilzernte in diesem Jahr ausgefallen sei, wegen der großen Trockenheit. Steinpilze seien kaum noch zu finden. Er weist mit der pfeifenbewährten Hand hinaus in Richtung Meer und sorgt sich um die kleiner werdenden Vogelkolonien der Insel.

Der Abschied nach nahezu drei Stunden findet in einer Atmosphäre statt, die etwas von leiser Vertrautheit hat. Als der Wagen schließlich um die Ecke biegt, das Fachwerkhaus aus meinem Blickfeld rutscht, fällt mir die erste Frage ein, die ich vergessen habe, zu stellen. Ob Grass abergläubisch ist. Denn just als wir mit der Aufnahme des Gesprächs beginnen wollten, läutete es an der Tür. Ein Rauchfangkehrer kam, um den Kamin zu reinigen.

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"Ich hoffe, dass das Buch sich mitteilen wird"
"Froh, dass es draußen ist"
Beim Häuten der Zwiebel
Stimmen zu Grass-Geständnis I
Stimmen zu Grass-Geständnis II

Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 18. Oktober 2007, 21:01Uhr

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Buch-Tipp
Günter Grass, "Beim Häuten der Zwiebel", Steidl-Verlag, ISBN 3865213308

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CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop

Links
Wikipedia - Günter Grass
Günter Grass Stiftung
Verlag Steidl