Die Verantwortungen liegen hier im Diesseits

Günter Grass im Gespräch

Über der SS-Beichte des Autors ist das Buch, der sie entstammt in den Hintergrund getreten. Nach den ersten Zitaten zur causa prima hier einige weiterführende Passagen, etwa zum wahrscheinlichen Treffen mit dem späteren deutschen Papst im Kriegsgefangenenlager.

Michael Kerbler im Gespräch mit Günter Grass

In seiner soeben erschienen Autobiografie schreibt sich Günter Grass die Schuld seiner jungen Jahre aus dem Leib - tatsächlich vergleicht er bildlich zwischen langem Schweigen und einem verkapselten Granatsplitter in seiner linken Schulter. Die Episode bei der Waffen-SS endete mit Verwundung und Gefangennahme im Mai 1945 bei Marienbad. Fast ein Jahr lang bleibt er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Einer seiner Kumpel heißt Josef und träumt von einer außergewöhnlichen Karriere.

Michael Kerbler: Haben Sie mit Ihrem Kumpel Josef, mit dem Sie dort im Gefangenenlager waren, nur über theologische Fragen gesprochen?
Günter Grass: Absolut nur über so etwas. Richtig pubertär über Gott und die Welt und meine verstiegenen Wünsche, eines Tages Künstler zu werden. Bei ihm, Josef, spielte sich dieser Wunsch ab, in der katholischen Kirche in der Hierarchie aufzusteigen. Alles hatte so eine leicht verklemmt-bescheidene Art und Weise. Aber mit einem gewissen Fanatismus vorgetragen. Ein sehr sympathischer Junge, von dem ich nur weiß, dass er Josef mit Vornamen hieß. Und während des Schreibprozesses an diesem Buch passierte dann, dass ein Deutscher Papst wurde, dieser Ratzinger. Und ich las dann in seinen biografischen Notizen, die veröffentlicht wurden, dass er zum gleichen Zeitpunkt wie ich in Bad Aibling in dem Lager gewesen ist. Und da fiel mir mein Kumpel Josef ein, und deshalb geistert der wohl durchs Buch.

Der Vatikan hat ja reagiert ...
Hat er reagiert?

Er hat reagiert und hat gesagt, der Heilige Stuhl nimmt dazu keine Stellung. Das ist eine Privatangelegenheit von Josef Ratzinger. Wenn er sich dazu äußern will ...
Das ist richtig so.

Also hat er es offensichtlich noch nicht getan.
Nein. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht gab es viele Kumpel Josefs, die diese Pläne hatten. Ich sage ja nicht in dem Buch, dass er es war. Aber es lässt sich vermuten.

Sie sind alle möglichen Fragen gefragt worden. Auf eine Frage waren Sie offensichtlich nicht vorbereitet. Sie sind einmal gefragt worden: Herr Grass, wollen Sie Papst werden? In dem Interview war es erst einmal zwei Minuten lang still, und dann haben Sie gesagt: Mit meiner Frau gemeinsam schon. Wie würden Sie denn heute Ihre Haltung zur katholischen Kirche - aus der Sie ja ausgetreten sind - beschreiben?
Eine sehr distanzierte. Ich wünschte mir, dass mein Kumpel Josef, wenn es denn der spätere Papst gewesen ist, in seiner Klugheit - er ist ja ein kluger Junge gewesen, war damals schon zu erkennen - auch die Stärke hat, die Not der Menschen zu erkennen, die der katholischen Kirche sich zugehörig fühlen, die gefangen sind in ihren Glaubensgeboten. Dass er diese armen Priester von ihrer sexuellen Not befreit, Neune grade sein lässt. Dass er in Kenntnis der Kirchengeschichte doch mal zurückblickt, was alles innerhalb seiner eigenen Kirche über Jahrhunderte möglich gewesen ist, bevor das alles in Dogmen so festgezerrt worden ist. Dass er angesichts einer Überbevölkerung mit schrecklichen Folgen in einigen Ländern die Notwendigkeit zumindest von empfängnisverhütenden Mitteln akzeptiert, zumindest das akzeptiert.

Also dass dieser schreckliche Dogmatismus der katholischen Kirche, der am Ende diese Institution ruinieren wird - die Gläubigen laufen weg, weil sie sich nicht mehr wahrgenommen sehen in ihrer Not -, dass er das erkennt und dass er daraus seine Schlüsse zieht. Ob er die Kraft dazu hat, ob er stark genug ist, die Hierarchie, in der er drinnen ist, dahin zu bringen, das weiß ich nicht. Nur bin ich mittlerweile von diesen Dingen so weit weg. Ich kann ohne Gott leben. Ich bin auf mich zurückgeworfen, auf mich allein. Die Verantwortungen liegen hier im Diesseits, hier messe ich mich und soll ich auch gemessen werden. Ich bin nicht bereit, irgend etwas auf spätere Gnade oder auf ein Leben nach dem Tode und andere Spekulationen zu schieben.

Herr Grass, Sie sind ja nicht nur aus der katholischen Kirche ausgetreten, sondern auch aus der SPD.
Das ist ein hübscher Vergleich!

Wer ist Ihnen denn näher?
Sozialdemokrat bin ich geblieben. Das ist eine politische Einschätzung von Möglichkeiten, sich menschlich und human zu verhalten, auch aus meinem Herkommen aus der europäischen Aufklärung her. Was wir in Europa dankenswerterweise seit der Renaissance und der Aufklärung haben, und eben auch aus der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung, da bin ich nach wie vor, dass Solidarität geboten ist. Und dass der Anlass dafür in einer globalisierten Welt, in einem jetzt mittlerweile wie wild gewordenen Kapitalismus als letzte übriggebliebene Ideologie dieses Solidaritätsgebot der europäischen Arbeiterbewegung eine ganz andere Notwendigkeit gewonnen hatten. Und dabei bleibt es dann auch. Ich bin aus der SPD ausgetreten, weil sie sich breitschlagen hat lassen, diesen unsäglichen Asylparagraphen mitzutragen, der Menschen zu Abschiebehäftlingen macht, und in einer Partei, deren damals führende Mitglieder dank Immigration und der Möglichkeit der Immigration überhaupt überlebt haben, war das für mich ein sehr schändlicher Vorgang. Aber das habe ich von meiner politischen Überzeugung eben dieses sozialdemokratischen Weges - nicht zur endgültigen Gerechtigkeit, aber zu mehr Gerechtigkeit. Das ist immerhin schon etwas, deshalb bleib ich dabei.

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Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 18. Oktober 2007, 21:01 Uhr

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Buch-Tipp
Günter Grass, "Beim Häuten der Zwiebel", Steidl-Verlag, ISBN 3865213308

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CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop

Links
Wikipedia - Günter Grass
Günter Grass Stiftung
Verlag Steidl