"Ich hoffe, dass das Buch sich mitteilen wird"

Günter Grass im Gespräch

Beim Häuten der Zwiebel werden Stoffe freigesetzt, die reizen - so könnte man den Wirbel um Günter Grass und seine SS-Mitgliedschaft als 17-Jähriger umschreiben. Im Gespräch mit Michael Kerbler nimmt er Bezug auf öffentliche Reaktionen.

Auszug aus dem großen Ö1 Grass-Interview

Michael Kerbler hat Günter Grass vor zwei Jahren auf der dänischen Ostseeinsel Mon, wo der Dichter stets den Sommer verbringt, besucht und ausführlich mit ihm gesprochen.

Michael Kerbler: Herr Grass, angesichts dieser vielen Kritik, die auf Sie niedergegangen ist wegen der Zugehörigkeit zur Waffen-SS, dieser drei Monate Ihres Lebens, haben Sie irgendwann einmal überlegt: Hätt' ich mir nicht das ersparen können? War's das wert?
Günter Grass: Ja, solche Anflüge gibt es natürlich, und es gibt dann auch diese Anfechtungen, dass man sich angesichts auch von so viel Hass, der da hochkommt, verkriechen möchte. Aber andererseits auch das Bedürfnis dem standzuhalten. Und ich glaube - ich hoffe jedenfalls - dass das Letzte sich durchsetzen wird.

Dass das Buch sich durchsetzen wird?
Dass das Buch sich durchsetzen wird, und dass ich dem auch standhalte. Denn mein ganzes Leben - mein literarisches Leben und mein Leben als Bürger, als engagierter Bürger - ist der permanente Versuch gewesen, diesen Frühprägungen meiner jungen Jahre zu entkommen. Daraus meine Konsequenzen zu ziehen. Entsprechend zu handeln, zu schreiben und mich zu verhalten. Und das zählt bei mir am Ende. Und ich hoffe, dass das Buch sich mitteilen wird. Es ist eine, wenn man so will, auch schonungslose Bestandsaufnahme dieser jungen Jahre, wobei aus meiner Sicht ich die eigentlich größeren Vorwürfe diesem Jungen gegenüber (es ist ja immer eine sehr fragwürdige Sache, man nähert sich einer Person, die einem fremd geworden ist, die wieder imaginiert werden muss im Schreibprozess) die Verfehlungen bei mir mehr im privaten Bereich lagen, also dort, wo ich hätte handeln müssen. Als mein Onkel, der bei der polnischen Post war, erschossen wurde, dass die Fragen ausgeblieben sind. Dass, als ein Schüler, ein Freund von mir in der Schule plötzlich verschwand, mitsamt Familie, die Fragen ausgeblieben sind. Dann ein Kapitel, das heißt "Wir tun so was nicht". Also beim Arbeitsdienst, ein Junge, der sonst sprachlos war, gehörte zu den Zeugen Jehovas und war der einzige, der Widerstand geleistet hat, indem er kein Gewehr anfasste. Er ließ es fallen. Und trotzdem, in meiner Erinnerung habe ich mich geprüft. Es war eine Mischung sicher bei uns allen, auch bei mir, dass wir ihn gelegentlich bewundert haben, weil er so standhaft war. Aber wir haben ihn auch gehasst, weil er wurde geschliffen, und wir wurden mit ihm mit geschliffen, weil wir ihn unter Druck setzen mussten. Das sind die großen Verfehlungen eines Jungen, über die ich schreibe. Und diese Phase mit der Waffen-SS ist eine, in die ich hineingeraten bin. Sicher auch durch die Dummheit. Und ich hatte - was genau so verrückt war - mich zu den U-Booten gemeldet und landete in dieser ... wie viele, die einfach dann... mein Jahrgang war dran, 27 wurde gezogen... landete ich bei dieser Division Frundsberg. Und das hab ich offengelegt.

Aber Herr Grass, die meisten kritischen Wortmeldungen gibt's ja nicht zur Person Grass, weil Sie dort zur Waffen-SS eingezogen worden sind, sondern die kritischen Anmerkungen gibt es deshalb, weil man Ihnen sagt, Sie haben so lang hohe moralische Maßstäbe an Verhalten, zum Beispiel von Politikern - Stichwort Helmuth Kohl - etc., angelegt, und selber nicht danach gelebt.
Dem widerspreche ich. Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich gefangen war in dieser Ideologie, als Hitlerjunge bis zum Schluss wie ein Idiot an den Endsieg geglaubt habe. Ich habe im Gegensatz zu vielen anderen mich nicht als nachträglicher Widerstandskämpfer aufgespielt. Man kann das als Versäumnis ansehen, dass ich nicht darüber gesprochen hab. Ich konnte es nicht. Es steht im Buch drin. Es lag bei mir wie verkapselt. Ich habe auch nicht schlüssige Erklärungen dafür. Ich will das auch nicht verteidigen in dem Sinne. Und ich bin auch froh, dass es jetzt draußen ist. Es brauchte seine Zeit. Ich bin von Beruf Schriftsteller. Ich kann über diese Dinge nur in einem größeren Zusammenhang sprechen. Das Thema - um ein anderes Buchthema zu erwähnen - das Buch davor "Im Krebsgang" lag bei mir seit Jahrzehnten als Stoff bereit. Ich konnte nicht darüber schreiben. Ich fand keine literarische Form. Es hat so lange gedauert, bis ich dann über den Umweg der Fiktion indem ich eine Figur, die Tulla Pokriefke aus "Hundejahre" und "Katz und Maus" wiederbelebte. Sie überlebte. Ich ließ sie als 70-Jährige auftreten, und so bekam ich den Zugang zu dem Stoff. Und erst hier. in diesem Fall, in dem ich mich gegen große innere Widerstände der Form gegenüber, der Form der Autobiografie gegenüber dann doch entschlossen habe, über meine jungen Jahre zu schreiben, war ich in der Lage, das alles bis in Detail - so weit es meine Erinnerung hergab - niederzulegen.

Ist Ihnen nie die Idee gekommen, dass es andere Männer ihres Alter gibt, die so wie Sie schuldlos schuldig geworden sind? Die auch zum Beispiel eingezogen worden sind zur Waffen-SS, dass für die eine Wortmeldung des Günter Grass eine unendliche Erleichterung gewesen wäre?
Ja, das ist sicher richtig. Das wäre vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt wäre das... ich weiß nicht, wie das aufgenommen worden wäre, je nach politischer Konstellation, in der man sich befand ... es ist nicht geschehen von mir aus, und das ist sicher auch bedauernswert, auch von mir bedauernswert. Nur ich konnte es nicht. Es lag bei mir wie verkapselt, wie der kleine Granatsplitter in meiner linken Schulter, der sich auch verkapselt hat, lag das, und jetzt ist es freigelegt. Ich hab es nicht aus Zwang von außen getan, sondern ich selbst habe mich dazu gezwungen, es niederzuschreiben.

Ist Ihnen leichter?
Ja. Ganz gewiss ja. Ganz gewiss. Und ich muss das jetzt so hinnehmen, wie es auf mich zukommt. Und das ist nicht immer leicht. Ein paar der Darstellungen in der Öffentlichkeit sind regelrechter Rufmord, wo alles, was ich getan habe, dadurch sozusagen entwertet sein soll. Ich kann nur hoffen, dass das Buch am Ende spricht, auch für mich spricht, indem das zur Kenntnis genommen wird, was ich dann doch bis ins Detail niedergelegt habe. Und worauf ich eben großen Wert lege: Die Gewichtungen in dem Buch sind andere, als die, die gegenwärtig in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Wie erklären Sie sich dieses Nicht-darüber-reden-können, was während des Krieges geschehen ist? Egal jetzt, ob Soldaten, die an der Front waren, oder ob es zu Hause passiert ist? Ich erwähne aus dem Buch nur einen Absatz, wo Sie schreiben, dass Soldaten ihren Heimaturlaub abgebrochen haben, weil sie es nicht ausgehalten haben ...
Auch meine Mutter, zum Beispiel, die wiederholt vergewaltigt worden ist bei der Besetzung Danzigs durch die sowjetische Armee, und die sich schützend vor meine Schwester gestellt hat, hat nicht zu Lebzeiten darüber sprechen können. Die Tatsachen hab ich erst nach ihrem Tod von meiner Schwester erfahren. Es gibt viele, auch die das KZ überlebt haben, die nicht in der Lage sind ... Es gibt in Israel die Klagen der Kinder, dass die, die das durchgemacht haben, nicht darüber reden können. Es hat sich jetzt Ivan Nagel zu Wort gemeldet in der Diskussion, aus einer jüdischen Familie kommend, der all diese Pein, all diese Angst, all diese Furcht, all dieses Sich-verstecken-müssen miterlebt hat, und der auch erst Jahrzehnte später darüber sprechen konnte. Es liegt jetzt wohl auch in meinem Fall daran, dass ich mir, was Verbrechen betraf, oder das Verwickeltsein in Verbrechen, nichts vorwerfen konnte. Ich habe diese SS-Division Frundsberg, der ich zugeteilt war, überhaupt nicht mehr vorgefunden, die war versprengt. Ich bin in einen wechselnden Haufen gekommen, da war Wehrmacht, da war Luftwaffe, da waren Teile von der Waffen-SS, das war alles immer zusammengewürfelt. Und die Angst, die ich gehabt hab, die ich beschreibe in dem Buch, war gar nicht in erster Linie während dieser wenigen Tage vor den Russen, sondern vor der eigenen Feldgendarmerie. Denn in diesem Hin und Her war ich die meiste Zeit ohne Marschbefehl. Und wer ohne Marschbefehl angetroffen wurde, wurde aufgehängt. In jedem Rückzugsort, durch den wir kamen, hingen Jungens meines Alters und Ältere an den Bäumen aufgehängt. Mit einem Schild drunter "Ich bin ein Verräter", "Ich bin ein Fahnenflüchtiger" etc. Das war die Situation, in der ich mich gefunden habe - nicht durch eigenes Zutun, nicht durch Widerstand oder Heldentum... ich bin nicht einmal dazu gekommen, einen Schuss abzugeben. Und diese wenigen Tage des Verwickeltseins in etwas, dem ich zugeordnet worden war, diese Waffen-SS-Einheit gab mir zwar keine Schuld ein, aber ein Makelgefühl, als eine Schande hab ich das bei mir verkapselt in der Zeit. Und das mag ein Fehler gewesen sein, dass ich nicht früher drüber gesprochen hab, aber so kann ich es nur darstellen.

Wenn wir kurz noch einmal Revue passieren lassen, was da an öffentlicher, an veröffentlichter Diskussion über diese Zugehörigkeit zur Waffen-SS gelaufen ist, was sagt denn das über die Sprachlosigkeit oder über den Zustand, wie Deutschland mit diesem Kapitel seiner Geschichte umgegangen ist denn aus? Da ist ja noch nicht reiner Tisch gemacht worden.
Es ist, sagen wir mal, eine Bestätigung der Vermutung, dass das nie aufhören wird. Dass diese nachträglich erkannten Verbrechen - ich sage bewusst nachträglich erkannten - von Auschwitz und der geplanten und durchgeführten Massenvernichtung erst nach dem Krieg und auch zögerlich zur Kenntnis genommen und dann akzeptiert als etwas Schreckliches. Das alles passierte in einem Zeitraum von zwölf Jahren. Wenn wir das mit den letzten zwölf Jahren der Gegenwart vergleichen, dann kann man sich kaum noch erinnern, was da geschehen ist. Eins löst das andere ab, zumindest in einem Teil der Welt, in dem kein Krieg ist. Dann sieht man, wie nachträglich das alles wirkt. Selbst der abermalige Krieg zwischen Libanon und Israel ist im Grunde ein Ergebnis dieser zwölf Jahre. Durch die erzwungenermaßen gerechtfertigte Existenz Israels dort. Und das ist Ursache der nicht nachlassenden Konflikte. Mit all diesen Dingen sind wir bis heute konfrontiert. Und ich habe das an anderer Stelle gesagt: Natürlich ist es auf der anderen Seite eine Leistung, eine Bemühung gewesen, dem nicht auszuweichen, auch dem nicht ausweichen zu können. Die deutsche Vergangenheit hat uns immer wieder eingeholt. Wenn wir meinten, und Politiker sagten, jetzt ist genug Buße getan - Strauß hat das getan -, immer kam wieder etwas zum Vorschein und setzte die Diskussion noch einmal an. Das liegt sicher daran, dass sich die Deutschen bis dahin als eine Kulturnation angesehen hatten und nun erkennen mussten, dass es trotz Aufklärung und humanistischer Bildung und all dem, was man zu Recht und zu Unrecht für sich beansprucht hat, keine ausreichende Gegenwehr gegen diesen Einbruch von Barbarei gegeben hat.

Glauben Sie, dass nach der Debatte die Wortmeldungen des politischen Menschen Günter Grass an Gewicht verloren haben? Dass man Ihnen nicht so aufmerksam zuhören wird, wie das in der Vergangenheit der Fall war?
Sehen Sie, das ist, was man jahrelang gemacht hat, gegen meinen Willen. Und von mir werden Sie keinen Satz hören, der das für sich in Anspruch nimmt. Man hat mich als politisches Gewissen oder als Wappentier der Nation und all das bezeichnet. Das sind alles Etikettierungen, die von außen gekommen sind. Und das wird nun in Abrede gestellt. Ich kann sagen, ich bin dankbar dafür. Ich hab das nie für mich in Anspruch genommen, aber ich werde natürlich weiter als Bürger wie als Schriftsteller, so lang ich noch bei Puste bin, meine Meinung dazu sagen und auch dafür einstehen. Ob das dann akzeptiert wird oder nicht, das ist nicht in meiner Hand. Das ist vorher schon fraglich gewesen, und was jetzt in der Öffentlichkeit läuft, ist sicher auch aus dem Wunsch heraus, etwas, was man zum "Gewissen der Nation" ernannt hat, loszuwerden.

Mehr zu Günter Grass in oe1.ORF.at
Beim Häuten der Zwiebel
Stimmen zu Grass-Geständnis

Hör-Tipp
Im Gespräch: Günter Grass, 18. Oktober 2007, 21:01 Uhr

Buch-Tipp
Günter Grass, "Beim Häuten der Zwiebel", Steidl-Verlag, ISBN 3865213308

Links
Wikipedia - Günter Grass
Günter Grass Stiftung
Verlag Steidl