Wie Sexualität erforscht wurde

Hirschfeld, Kinsey & Co

Seit etwa 150 Jahren ist Sexualität ein Thema akademischer Überlegungen. 1919 gründete Magnus Hirschfeld das erste Institut für Sexualforschung. In den 1960ern sorgten die Kinsey-Reports für großes Aufsehen. Heute hingegen scheinen viele Tabus gefallen.

Sexualforscher Erik Janssen zu Kinseys Methoden

In Zeiten, in denen Sexualität in all ihren Facetten zum beliebten Thema unzähliger Zeitschriften und Bücher geworden ist und viele Tabus gefallen sind, scheint Sexualforschung ihren Stellenwert verloren zu haben. Sexualität unterliegt jedoch einem unentwegten kulturellen und gesellschaftlichen Wandel und so mangelt es den Sexualforschern bis heute nicht an neuen Fragestellungen und den Therapeuten nicht an Patienten.

Alfred Charles Kinsey war einer der ersten Wissenschaftler, die sich intensiv mit dem Thema Sexualität beschäftigt haben. Seine vor etwa 60 Jahren veröffentlichten Ergebnisse sind bis heute Gegenstand diverser Meinungsstreitigkeiten.

Auslöser der sexuellen Revolution

1894 in Hoboken, New Jersey, geboren, spezialisierte sich Alfred Charles Kinsey zuerst als Zoologie-Professor an der Indiana University in Bloomington auf die systematische Katalogisierung von Gallwespen. Als die Universität 1936 Eheberatungskurse für die Studenten einzuführen plante und ihm diese Aufgabe übertrug, begann er mit einem kleinen Team, empirische Daten zu sammeln.

1947 gründete er schließlich das Institute for Sex Research, das später in The Kinsey Institute for Research in Sex, Gender and Reproduction umbenannt wurde. Seine Mitarbeiter befragten mehr als 10.000 Amerikaner über ihr sexuelles Verhalten. Die Ergebnisse wurden 1948 und 1953 in zwei Bänden über das sexuelle Verhalten des Mannes und der Frau veröffentlicht - den so genannten Kinsey-Reports.

Auch wenn die Auswahl der Befragten nicht ganz repräsentativ war, stellten die Studien zweifelsohne eine Pionierleistung dar und lösten einen Sturm der Entrüstung aus. Sexuelle Praktiken wie Masturbation, orale Befriedigung, Analsex, außerehelicher Geschlechtsverkehr oder Sex mit gleichgeschlechtlichen Partnern hatten bis dahin als Tabuthemen gegolten.

Nun plötzlich war in den Berichten zu lesen, dass diese Praktiken weit verbreitet sein sollten. Viele US-Bürger wollten nicht damit konfrontiert werden. Trotz dieses Widerstandes wurden die Kinsey-Reports zu Bestsellern. Von vielen werden sie sogar als Auslöser der sexuellen Revolution in den 1960er Jahren betrachtet.

Der Vorreiter Magnus Hirschfeld

Sexualwissenschaft im weitesten Sinne wurde jedoch schon lange vor Kinsey betrieben. Denn schon 1919 gründete der deutsche Arzt und Vordenker der Homosexuellenbewegung, Magnus Hirschfeld, das erste Institut für Sexualforschung. 1868 in Kolberg in Pommern geboren, studierte Hirschfeld Philosophie, Philologie und Medizin und ließ sich 1893 als Arzt in Magdeburg nieder.

Zwei Jahre später übersiedelte er nach Berlin und gründete das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, danach die Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik und schließlich das Institut für Sexualwissenschaft, das er bis zur Zwangsschließung 1933 leitete.

Hirschfeld vertrat die Ansicht, dass Homosexualität weder als Krankheit noch als Laster, sondern als "natürlich angeborene Variante sexueller Neigungen“ zu werten sei und setzte sich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinander. Sein Lebensmotto lautete: "Per scientiam ad justitiam - durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“.

Die neue Enthaltsamkeit

Homosexualität, aber auch Fetischismus, Sadomasochismus oder Transsexualität werden heute nicht mehr grundsätzlich als Krankheiten betrachtet. Nach der Hochstilisierung der allein selig machenden freien Sexualität während der "sexuellen Revolution“ in den 1960er Jahren sorgten HIV und AIDS Ende des 20. Jahrhunderts für eine neue Enthaltsamkeit, aber auch für eine öffentliche Thematisierung gleichgeschlechtlicher Intimität.

Frauen wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zugestanden, orgasmusfähig zu sein und ein Recht auf ein erfülltes Sexualleben zu haben. Sex im Alter ist kein Tabuthema mehr, Transsexualismus ein höchstrichterlich anerkanntes neues Geschlecht.

Sexualität heute

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint Sexualität ein allgegenwärtiges Thema zu sein. Nahezu täglich erscheinen neue Bücher, Ratgeber, Zeitschriften, Filme und Online-Publikationen, die sich mit sexuellen Vorlieben und Praktiken, Ratschlägen zur sexuellen Befriedigung und Selbstbefriedigung, Erfahrungsberichten und Lebensbeichten beschäftigen. Hat die Sexualforschung heute überhaupt noch irgendeinen Stellenwert?

Sexualität sei nichts Unveränderliches oder Konstantes, so der Frankfurter Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch. Sexualität unterliege unentwegt einem kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Sie verändere sich ständig, und folglich würden auch neue Störungen auftreten, wie zum Beispiel die Sucht nach Sex im Internet.

Vermehrt ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist auch die Tatsache, dass Sexualität ein Machtinstrument sein kann, dass sexuelle Gewalttaten gegen Frauen und Kinder häufiger vorkommen, als die meisten Menschen wahrhaben möchten. Sexualität ist nichts Einheitliches, biologisch Vorgegebenes. Das klar zu machen, ist bis heute eine wesentliche Aufgabe der Sexualforschung.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 21. August bis Donnerstag, 24. August 2006, jeweils 9:05 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendereihe "Radiokolleg" (mit Ausnahme der "Musikviertelstunde") gesammelt jeweils am Donnerstag nach Ende der Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
T. C. Boyle, "Dr. Sex", ins Deutsche übertragen von Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag, ISBN 3446205667

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Links
Wikipedia - Kinsey-Report
Kinsey Institute