Lager des Schreckens - Camp des Vergnügens

Die Campisierung der Welt

Lager sind heute allgegenwärtig: Guantanamo Bay, die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla aber auch Feriencamps und Selbsterfahrungslager haben Hochkonjunktur. Auch sie sind abgezirkelt und abgeschirmt. Wird die Welt campisiert?

Noch nie gab es so viele Migranten wie jetzt. 175 Millionen bis 200 Millionen Menschen waren es im Vorjahr. Im Jahr 2050 werden es 230 Millionen, schreibt Corinna Milborn in ihrem Bestseller "Gestürmte Festung Europa". "Am Brisantesten ist die Lage auf den Kanarischen Inseln, wo die Menschen sofort in Lager gesteckt werden. Diese Lager sind überhaupt nicht auf diese Menschenmassen vorbereitet." Die Journalistin Corinna Milborn hat für ihr Buch die Brennpunkte Europas besucht.

Illegale Flüchtlingslager

In den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla werden in regulären Flüchtlingslagern vor allem Afrikaner der Länder südlich der Sahara untergebracht. Es gibt aber auch sehr große irreguläre Lager beiderseits des Zauns.

"Hinter dem Zaun von Ceuta leben im Wald schätzungsweise 3.000 Menschen, die ständig auf der Flucht vor dem Militär sind und in sehr kleinen selbst gebastelten Hütten wohnen. Viele, die ich dort getroffen habe, sind schon seit zwei, drei Jahren dort. Sie verbringen Jahre in einem totalen Ausnahmezustand", so Milborn.

Ausnahmezustand

Agamben hat sich in einem mehrbändigen Werk mit Lager und dem dort herrschenden Ausnahmezustand auseinandergesetzt. Er erinnert an den "Homo sacer", eine Figur des römischen Strafrechts - einen vogelfreien Menschen, der straflos getötet werden durfte. In den zwischen Leben und Tod siechenden Flüchtlingen sieht Agamben die massenhaft real gewordene Verkörperung dieses "Homo sacer". Er macht auch einen aufschlussreichen Blick zurück in die Geschichte der Lager, in die Konzentrationslager.

Vor den in den Lagern begangenen Greueltaten ist die Frage, wie es möglich gewesen ist, solch entsetzliche Verbrechen an menschlichen Wesen zu begehen, heuchlerisch. Ehrlicher und vor allem nützlicher wäre es, gewissenhaft zu untersuchen, durch welche juristische Prozeduren und welche politischen Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können, bis es keine Handlung mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre." (Giorgio Agamben, "Homo sacer", S. 180).

Die Kulturtheoretikerin Katharina Zakravsky versucht im "Camp-Projekt" die Mechanismen des Aus- bzw Einschließens zu analysieren. Das Camp-Projekt ist ein Zusammenschluss von internationalen Künstlern und Intellektuellen, die eine Serie von Symposien veranstalten. Die Künstler vermuten die ganze Welt in einem Lagerzustand.

"Die Leute sind davon besessen, sowohl andere in Lager zu stecken als auch selbst in ein Lager zu gehen, um bestimmte Erfahrungen zu machen." Zakravsky sieht in der Lust auf Ferienlager oder Selbsterfahrungscamps eine Campisierung der Lebenswelt.

Keine Erinnerungsorte für den Gulag

Ganz anders in Russland: dort erinnert nichts an die Schrecken der Gulag-Lager. "Die Baracken, die in der Taiga standen, sind zerfallen. Es gibt nichts, was mit der Gedenkstätte Mauthausen zu vergleichen wäre", sagt die Autorin Irina Scherbakova.

Sie versucht dieses Manko abzufangen. Seit Ende der 70er Jahre sammelt sie Tonbandaufzeichnungen von Opfern des Stalinismus und Inhaftierten im Gulag und veröffentlichte das Buch "Russlands Gedächtnis". Eine Gulag-Gedenkstätte kann ihre Arbeit aber auch nicht ersetzen, meint sie.

Gesellschaft ohne Lager?

Für Corinna Milborn ist eine Gesellschaft ohne Lager durchaus denkbar: "Es gibt Beispiele von Mittelmeerdörfern, wo die Flüchtlinge aufgenommen wurden. Das hat wunderbar funktioniert. Das scheint aber nicht im Interesse der Politik zu sein." Vielmehr ginge es darum, die Flüchtlinge abzuschotten und als anonyme Masse darzustellen. Denn die Hilfsbereitschaft gegenüber einzelnen, konkreten Menschen ist nach wie vor groß. Hannah Arendt hat einmal gesagt, dass in den Lagern ein Prinzip ans Licht kommt: nämlich dass alles möglich ist.

Mehr zu Guantanamo in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 23. August 2006, 21:01 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Corinna Milborn, "Gestürmte Festung Europa", Styria Verlag, ISBN 3222132054

Giorgio Agamben, "Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben", aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518120689

Irina Scherbakowa, "Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten", Edition Körber Stiftung, ISBN 389684041

Link
Camp-Projekt