Walt Whitman als Inspiration
Helle Tage
Mit "Helle Tage" hat Michael Cunningham erneut bewiesen, dass er zu den ganz Großen der amerikanischen Gegenwartsliteratur gehört. In seinem neuen Roman verbindet er drei Zeitlinien miteinander, die eines gemeinsam haben: New York.
8. April 2017, 21:58
"Eine Geschichte, die zu einer bestimmten Zeit spielt, erschien mir einfach nicht genug, so wie es noch für Autoren wie Jane Austen oder George Elliott der Fall war. Es erschien mir nicht groß genug", meint Autor Michael Cunningham. Und so hat er seinen neuen Roman mit dem Titel "Helle Tage" aus drei Teilen zusammengesetzt, die alle in New York, aber zu verschiedenen Zeiten spielen.
Beginn um 1850
Der erste Teil, angesiedelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, erzählt die Geschichte des 13-jährigen Lucas, dessen Bruder Simon in einer Fabrik arbeitete und bei einem schrecklichen Unfall mit seiner Maschine ums Leben kam. Während die Eltern und Simons Verlobte Catherine um den Toten trauern, macht sich Lucas auf die Suche nach seinem Bruder - er glaubt, ihn im Rattern der Maschine zu hören und vermutet ihn im Wispern der Bäume. Schließlich ist es kein Geringerer als der große amerikanische Poet Walt Whitman, der Lucas einen Weg zeigt.
Er stand da und starrte auf die Sternbilder. Walt hatte ihn hierher geschickt, damit er das fand, und er verstand. Er meinte zu verstehen. Das hier war sein Himmel. Es war nicht der Broadway oder das Pferd auf Rädern. Es war Gras und Stille; es war ein Feld voller Sterne. Es war das, was das Buch ihm mitgeteilt hatte, Nacht um Nacht. Wenn er starb, würde er seinen schwächlichen Leib verlassen und zu Gras werden. Er würde hier sein, so wie jetzt, für immer. Es gab keinen Grund, sich davor zu fürchten, es war ein Teil von ihm. Was er für Leere hielt, das Fehlen einer Seele, war nur die Sehnsucht nach dem hier.
New York in Gegenwart und Zukunft
Während dieser erste Teil des Romans die Tradition der Geistergeschichte wieder aufleben lässt, führt der zweite Teil direkt in das New York der Neuzeit, wo die Polizeipsychologin Cat mit mehreren Selbstmordattentaten von Kindern konfrontiert wird. Erst als sie den kleinen Luke trifft, erkennt sie das Muster dahinter - ein Muster, das von Walt Whitman inspiriert ist.
Auch im dritten Teil taucht Whitman in verbrämter Form erneut auf, diesmal in einem zukünftigen New York, in dem sich das Maschinengeschöpf Simon in die Eidechsenfrau Katarin verliebt und mit ihr gemeinsam zu fliehen versucht - unterstützt von einem Jungen namens Luke. Dieser letzte Science-Fiction-Teil ist übrigens Michael Cunninghams persönlicher Favorit: "Ich habe diese Art der Freiheit genossen, die man hat, wenn man den Realismus hinter sich lässt, wenn man die vertraute Welt verlässt und sich in ein imaginäres Umfeld begibt.
Spiel mit Ereignissen, Namen und Motiven
Kunstfertig und verschlungen erzählt Cunningham seine Geschichten - Geschichten, die sich zu einer großen Hommage an New York zusammenfügen. Er spielt mit Ereignissen, Namen und Motiven - etwa einer Porzellanschale oder bestimmten Adressen - und lässt immer wieder Walt Whitmans Poesie durch die Zeilen schimmern.
Aus den drei individuellen Geschichten formt sich schließlich ein weitaus größeres Ganzes, eine beinahe Whitman'sche Vision von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. "Wenn ich schreibe, hoffe ich, dass das Buch überraschende Wendungen nimmt, dass ich Charaktere und Ereignisse entdecke, die ich nicht hätte erfinden können", so Michael Cunningham. "Am Anfang sind sie nichts weiter als große, schlampige Kuddelmuddel. Ich versuche dann, die roten Fäden zu erkennen und sie zu verbinden."
Aus diesem Chaos ist ein wahrhaft herausragendes Buch entstanden, ein spannender, intelligenter, hintergründiger Roman, der sich mit düsteren Themen beschäftigt und doch zu einem Loblied auf das Leben, die Liebe und die Welt wird, kurz: ein Werk, das eines Pulitzerpreisträgers würdig ist.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Michael Cunningham, "Helle Tage, Luchterhand Literaturverlag, ISBN 3630872255
Link
Wikipedia - Walt Whitman