Der Morgen nach dem Verschwinden
Die Arbeit der Nacht
Der österreichische Autor Thomas Glavinic geht in seinem neuen Roman der Frage nach, was es heißt, Mensch zu sein, wenn alle anderen Menschen verschwunden sind. Seine Vorliebe für extreme Figuren oder Situationen setzt er auch diesmal ein.
8. April 2017, 21:58
Der Fernseher flimmert, aus dem Radio kommt nur Rauschen, zu Internetadressen lässt sich keine Verbindung herstellen, und auch telefonisch ist niemand zu erreichen. Als Jonas, der Protagonist des Romans "Die Arbeit der Nacht", am 4. Juli in seiner Wiener Wohnung erwacht, muss er feststellen, dass er allein ist.
Zuerst glaubt er noch an einen schlechten Scherz, vermutet, einen Feiertag verschwitzt zu haben. Doch auch draußen auf der Strasse regt sich nichts. Jonas fährt nach Salzburg und nach Ungarn, hinterlässt überall Nachrichten, man möge ihn doch bitte kontaktieren, doch nirgends findet er Zeichen von menschlichem Leben.
Fragen nach der Ursache
Auf die Frage, wie sich der Erfinder dieses Szenarios selbst in so einer Situation verhalten würde, meint Thomas Glavinic: " Ich glaube ich würde spätestens nach 24 Stunden verrückt werden vor Angst. Würde mich fragen: bin ich wahnsinnig geworden? Oder gestorben und in der Hölle? Jedenfalls ist was passiert, was nicht passieren sollte."
Am Vorabend hatte er eine Streichholzschachtel gegen die Wohnungstür gelegt, wie er es in Filmen gesehen hatte. Als er am Morgen die Tür kontrollierte, lag die Schachtel noch da. An der exakt gleichen Stelle. Nur dass die Seite mit dem Adler nach oben schaute, nicht mehr die mit der Fahne. Niemand war hier gewesen, niemand. Es war unmöglich. Aber wie sollte er sich dann die Schachtel erklären?
Beobachtung der Beobachter
Bald macht sich in Jonas das ungute Gefühl breit, vielleicht doch nicht ganz allein zu sein. Er besorgt sich eine Pumpgun, um sich nötigenfalls verteidigen zu können. In den Elektronikgeschäften der Stadt sammelt er Kameras ein, die er an sorgfältig ausgewählten Plätzen positioniert, um das Geschehen beobachten zu können, auch wenn er gerade nicht vor Ort ist.
Vor allem aber interessieren Jonas die Vorgänge in seiner eigenen Wohnung, während er schläft. Begierig, endlich einen Hinweis auf die Lösung des Rätsels zu erhalten, sieht er sich alle Videos geduldig an.
Zunächst sah Jonas nur den Rücken, der sich ins Bild schob. Die Gestalt wandte sich um. Es war der Schläfer. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Jonas, wie der Schläfer zur Wand ging und das Messer packte. Herausfordernd blickte er in die Kamera. Er zog das Messer mühelos heraus. Er ging auf die Kamera zu. Auf eine rätselhaft charmante Weise zwinkerte es Jonas zu. Nur die Art, wie er mit dem Messer in der Nähe seines Halses herum spielte gefiel Jonas nicht.
Für den Autor war der Grundgedanke, "dass man erst dann wirklich allein ist, wenn man sich selbst hintergeht und damit sich selbst verloren hat."
Suche nach Spuren
Auf kleinen Karten notiert sich Jonas Handlungsanweisungen, die ihm durch den Tag helfen sollen, er nimmt fiktive Telefongespräche auf, um endlich wieder mit jemandem reden zu können. Ein weiterer Strohhalm, an dem er sich festzuhalten versucht, ist die eigene Vergangenheit. Jonas sucht in der Wohnung seines Vaters nach Spuren seiner Kindheit.
Die Liebe ist der einzige Rettungsanker, der dem Protagonisten bleibt. Also packt er all seine Habseligkeiten auf einen Lastwagen und macht sich auf die Suche nach seiner Freundin Marie, die sich zuletzt in Großbritannien aufgehalten hat. Die Emotionen um die es da geht, die kennt Thomas Glavinic : "Liebe, Einsamkeit, Angst, das ist mein Kern, mein Innerstes."
Thomas Glavinic hat mit "Die Arbeit der Nacht" ein sehr persönliches Buch vorgelegt, indem er sich zugleich an die großen Themen des Menschseins heranwagt.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
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Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 4. August 2006, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 6. August 2006, 18:15 Uhr
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Download-Tipp
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Buch-Tipp
Thomas Glavinic, "Die Arbeit der Nacht, Hanser Verlag, ISBN 3446207627