Sozialprojekt für Alt und Jung

Schöne Aussichten fürs Alter

Tiedoli ist kleines italienisches Dorf. Dort ist "ein Wunder passiert", sagt die Autorin Dorette Deutsch. Ein Sozialprojekt sorgt in Tiedoli dafür, dass Altenbetreuung mit einem wirtschaftlichen Aufschwung für die junge Generation verbunden ist.

Tiedoli ist ein kleines Bergdorf in der Emilia Romagna, zwischen Parma und der ligurischen Küste in den Ausläufern des Appenin gelegen. Ein beschaulicher Ort - und doch ohne Zukunft, wie es schien; für die Landwirtschaft zu wenig ergiebig, für den Tourismus zu unattraktiv. Die jungen Leute fanden keine Arbeit mehr, die Alten keine sozialen Einrichtungen. 2003 lebten nur mehr 30 Seelen in Tiedoli, heute, drei Jahre später, sind es immerhin wieder 78. Ein erstaunlicher Aufschwung, den das kleine Tiedoli einem engagierten, alternativen Sozialprojekt für betreutes Wohnen im Alter verdankt.

Alternative zum Altenheim

In ihrem Buch mit dem Titel "Schöne Aussichten fürs Alter" hat Dorette Deutsch dem kleinen Tiedoli ein Denkmal gesetzt - dem Ort und seinen Bewohnern. Sie hat sich Gedanken gemacht über das Leben im Alter und präsentiert die Früchte ihrer Recherchen über Alternativen zum Altenheim. Altenheime sind für die Autorin eine Horrorvorstellung, sie erinnern sie an Krankenhäuser, an geschlossene Anstalten, an Wartesäle des Todes - mit ihrem Geruch von Einsamkeit, Ausgrenzung und Isolation.

"Das ganz Faszinierende an Tiedoli ist - und dadurch unterscheidet es sich von allen anderen Projekten, die ich kennen gelernt habe -, dass dort die bessere und persönlichere Altenbetreuung mit einem wirtschaftlichen Aufschwung für die junge Generation verbunden ist", erzählt Dorette Deutsch.

Miteinander von Alt und Jung

Das Altenprojekt von Tiedoli wurde maßgeblich initiiert vom "Laboratorio Anziani", das sich innerhalb der Verwaltung der Provinz Emilia Romagna für eine andere Altenpolitik engagiert, die auf dem Miteinander von Alt und Jung basiert. 2003 begann man, die halbverfallenen Häuser des Dorfes, die die Kommune erwarb, mit Unterstützung der Provinz und Sparkassenstiftung wieder aufzubauen und altengerecht herzurichten. Zwei Jahre später waren sie fertig, die "Case de Tiedoli".

Von Anfang an ging es darum, (...) individuelle Lösungen zu finden. Oberstes Ziel war, dass die neu geschaffenen Strukturen flexibel gegenüber den Bedürfnissen der (...) Bewohner sein sollten.

Kostendeckende Projekte

Die Altenpflege in Tiedoli ist einer Kooperative übertragen, die kostendeckend arbeitet, aber nicht, wie beispielsweise die Träger von Altenheimen in Deutschland, Gewinne abwerfen muss. Hinzu kommt, dass sich auch ehrenamtliche Kräfte und Familienmitglieder an der Betreuung beteiligen - was nicht heißt, dass hier die Idee der Großfamilie restituiert und die Sorge für die Alten zur Pflicht für die Jungen erklärt würde.

"Wir müssen in Deutschland oder Nordwesteuropa das ganze Betreuungssystem hinterfragen", meint Dorette Deutsch. "So kann das nicht funktionieren. Ganz wichtig ist, und das ist auch die Grundaussage meines Buches: Alt sein bedeutet nicht krank sein. Wir müssen das Alter aus diesem Sanatoriumsgedanken herausholen."

Ansätze dazu gibt es bereits. Die Autorin verweist auf das Projekt einer Bielefelder Wohngenossenschaft für betreutes Wohnen oder die Alten-WG in einer Jugendstilvilla in Göttingen. Wenn Beispiele wie diese Schule machen, dann, glaubt sie, könnte tatsächlich der Traum von Mario Tommasini Wirklichkeit werden. Tommasini, der vor wenigen Monaten starb, war der Initiator vieler wichtiger Sozialreformen in Italien, war der "Vater" der "Case de Tiedoli", der von der Abschaffung aller Altenheime träumte.

Kein nüchterner Bericht

Wie aber ein solch großzügiges Wohnen auch im teuren städtischen Raum aussehen kann, mit welchen finanziellen Belastungen bei überwiegend pflegebedürftigen Fällen mit Ganztagsbetreuung zu rechnen ist, ob das, was für ein Dutzend Alter Wirklichkeit wurde, auch für eine Millionenschar realisierbar ist, bleibt bei Dorette Deutsch offen. Die Attraktivität des Modells schmälert das nicht: Wohnen im Grünen, in vertrauter Umgebung, mit Menschen verschiedener Generationen, respektiert als Individuum und nicht geduldet als soziales Mängelexemplar.

"Schöne Aussichten fürs Alter" ist kein nüchterner Bericht, sondern ein von Sympathie, ja fast Überschwang getragenes Buch über ein mutiges Experiment. Dass sie Impressionen und persönlichen Begegnungen breiteren Raum einräumt als schlichten Fakten, verdankt sich sicher auch dem Wunsch, den Funken der Euphorie überspringen zu lassen. Das Buch zeigt, es gibt eine Zukunft jenseits der Schachtelexistenz im Seniorenheim - ein altengerechtes Wohnen, das individuelle Bedürfnisse berücksichtigt, finanzierbar ist und nicht soziale Isolation bedeutet.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Dorette Deutsch, "Schöne Aussichten fürs Alter. Wie ein italienisches Dorf unser Leben verändern kann", Piper Verlag, ISBN 3492048730