Ein Situationsbericht am Beispiel Guatemalas
AIDS in Lateinamerika
Auch in den Ländern Mittel- und Südamerikas wird AIDS zu einem immer größeren Problem. Am Beispiel Guatemalas zeigt sich: Die Unterprivilegierten, die Armen, die Analphabeten, die Straßenkinder sind am stärksten gefährdet.
8. April 2017, 21:58
Stimmen von "Ärzte ohne Grenzen" aus Puerto Barrios
Die Statistiken sind besorgniserregend. Weltweit erkranken jedes Jahr fünf Millionen Menschen an AIDS. Insbesondere in den armen Entwicklungsländern ist diese Krankheit weiter im Vormarsch. In Zentralamerika etwa wird bis zum Jahr 2010 damit gerechnet, dass jeder 50. Mensch HIV-positiv sein wird. Damit wäre AIDS auch in Lateinamerika eine Alltagserscheinung geworden.
Schauplatz Guatemala-City
In Guatemala gibt es derzeit für AIDS-Patienten nur eine Möglichkeit, sich gegen diese Krankheit behandeln zu lassen, nämlich in der Hauptstadt Guatemala-City. Dort sollen bis zu 20 Prozent der Homosexuellen Virusträger sein. Nicht viel besser sieht es bei den Sex-Arbeiterinnen aus. Nachdem die Regierung das Problem jahrelang ignoriert hat, versuchen inzwischen kleine private Präventionsprojekte, die Verbreitung von HIV zumindest in diesen Gruppen einzudämmen - allerdings mit geringem Erfolg.
In der Calle de Amor - der Straße der Liebe - einen Steinwurf vom Präsidentenpalast entfernt - beginnen bereits 14-jährige Jungen ihren Körper anzubieten; nicht viel anders sieht es bei den Sexarbeiterinnen aus: Hunderte von jungen Frauen versuchen auf diese Weise an einem guten Dutzend Orten der Stadt zu überleben; viele davon sind allein erziehende Mütter. Denn reguläre Jobs sind eine Rarität in Guatemala, wo über 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.
Die Männer sind schuld
Aus Umfragen und Studien geht hervor, dass - unabhängig vom Geschlecht - drei von vier Guatemalteken den Gebrauch von Kondomen ablehnen. Die Folge: Immer mehr Frauen infizieren sich mit HIV; die meisten davon sind Hausfrauen. Inzwischen kommt auf zwei neu infizierte Männer mindestens eine Frau.
Eine der vielen freiwilligen Helferinnen des Präventionsprojekts Rodalinda der Frauenorganisation La Sala meint, das Problem seien nicht die Frauen, sondern deren Kunden, also die Männer: "Sie benützen kein Kondom. Kirche und Staat wiederum propagieren Treue und Enthaltsamkeit. Unter einer machistischen Erziehung ist es schiwerig, den Männern das Kondom nahe zu legen, denn in der Schule gibt es zwar Sexualaufklärung, aber nur unter dem Credo der Morallehre".
Auch für Berta Chete, der Vorsitzenden der Selbsthilfe-Organisation Gente Positiva, ist AIDS weit mehr als nur ein medizinisches Problem. Es gehe nicht nur um Sexualmoral. Die fast ungehinderte Ausbreitung der Epidemie sei ein Symptom für alte gesellschaftliche Missstände: "Es sind die Männer, die entscheiden, wann, wie und wo man Sex macht. Die Frauen werden nicht gefragt; sie werden aber öffentlich als die Schuldigen hingestellt".
Armut als Nährboden
Der kolumbianische Soziologieprofessor Herman Munoz Sanchez sieht einen starken Zusammenhang zwischen der Armut, der Marginalisierung und der Diskriminierung mit HIV-AIDS: "Es gibt viele junge Männer, die sich in den Bordellen der Stadt prostituieren, um damit ihre Familie zu ernähren. In Guatemala-City fehlen - vor allem für die Jugendlichen - Alternativen, um zu Geld zu kommen".
Sieben von zehn Lateinamerikanern leben unterhalb der Armutsgrenze. Das Risiko, sich mit HIV zu infizieren und an AIDS zu sterben, ist vor allem in den ärmsten Bevölkerungsschichten, also unter Migranten, in der schwarzen Bevölkerung und zum Teil auch in den indigenen Gemeinden am stärksten. Das Heer von Straßenkindern ist da ebenso betroffen wie Mitglieder von Jugendbanden: eine Wahrheit, die viele Regierungen Lateinamerikas nach wie vor nur ungern akzeptieren.
Ärzte ohne Grenzen
Wie ein Saum ziehen sich afrokaribische Dörfer an der Karibik- und Altantikküste vom Süden Mexikos bis nach Brasilien. Die Bevölkerung dieser Dörfer heißen Gerifunas. Sie sind überproportional stark von AIDS betroffen. Ein Beispiel hiefür ist Puerto Barrios, der einzige Karibikhafen Guatemalas. Die Stadt ist Drehscheibe für den Drogenhandel zwischen Kolumbien und Nordamerika. Im städtischen Hospital dieser Hafenstadt betreut u. a. die Argentinierin Ariana Val für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" eine Ambulanz für AIDS-Kranke. Sie zeigt auf, dass das staatliche Gesundheitssystem chronisch unterfinanziert ist:
"Die Einrichtungen, die Arbeitsbedingungen sind schlecht, die Gehälter auch. Ärzte und Pflegekräfte verfügen über wenige praktische und theoretische Kenntnisse. Leider ist auch oft die Motivation mangelhaft. Hinzu kommt die Korruption". Ariana Val beklagt in diesem Zusammenhang, dass selbst aus den nationalen Medikamenten-Programmen Geld abgezweigt werde und dass deshalb Patienten ihre Therapie unterbrechen müssten. Vor allem AIDS-Prävention finde von staatlicher Seite kaum statt. Auch das überlasse die Politik privaten Vereinen und Gruppen, die ihre Arbeit kaum finanzieren können.
Clowns als Aufklärer
AIDS in Guatemala ist aber nicht nur ein Problem der Ballungsräume, die durch Landflucht und Kinderreichtum zu verarmten Megastädten mutiert sind. Auch in den entlegensten Winkeln ist das Virus längst präsent - etwa in den Dörfern und Weilern des guatemaltekitschen Hochlandes, wo die indigene Bevölkerungsmehrheit zu Hause ist. So etwa in Concepcion, wo zur Zeit die "Clowns vom Proyecto Payaso" zu Gast sind und als Aufklärer fungieren. Ihre Show wird in die jeweilige Indigena-Sprache übersetzt: "Das schafft Vertrauen", so Victor, Gründungsmitglied der Payasos: "Es ist schwer, im Hochland über Sexualität zu reden. Als Clown ist es einfacher, dieses Tabu zu durchbrechen. Man kann nicht einfach in ein Dorf einfallen, wenn man die Indigena-Sprache nicht spricht".
Über 250 Gemeinden haben die "Clowns vom Proyecto Payaso" allein in den letzten zwei Jahren besucht. Inzwischen gibt es immerhin ein kleines Gehalt, aber nicht vom Staatshaushalt, sondern von westlichen Botschaften, denn der guatemaltekische Staat bleibt in Sachen Prävention weitgehend unsichtbar.
Düstere Aussichten
Trotz der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, die sich der Geisel AIDS annehmen, rechnet man allgemein, dass in Zentralamerika bis zum Jahre 2010 jeder 50. Mensch HIV-positiv sein wird. Und das könnte der Beginn einer explosionsartigen Ausbreitung sein.
Noch wäre Zeit zu handeln. Auf Seiten der Regierungen ist allerdings wenig Bereitschaft für Gegenmaßnahmen erkennbar. Mit Verweis auf die Armut der Länder wird das Problem soviel wie möglich an internationale Geldgeber und private Organisationen abgeschoben. Doch deren Hilfe kann die Ausbreitung von AIDS allenfalls bremsen.
Hör-Tipp
Journal-Panorama, Montag, 24. Juli 2006, 18:25 Uhr
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Links
Wikipedia - AIDS
Ärzte ohne Grenzen
AIDS Net Austria