Eine Art imaginäres Theater
György Kurtágs "Kafka-Fragmente"
Zu György Kurtágs 80. Geburtstag produzierte ECM die Neuaufnahme von Kurtágs "Kafka-Fragmenten". Ein Werk voller Weltschmerz, geschrieben für Sopran und Violine. Ein Miniaturwelttheater, interpretiert von Juliane Banse und Andras Keller.
8. April 2017, 21:58
Kafka-Fragment Nr. 8: "Es zupfte mich jemand am Kleid, aber ich schüttelte ihn ab"
Die Nerven liegen bloß, wenn es um Fragmente von Franz Kafka geht, kompositorisch interpretiert von György Kurtág, in einer neuen Aufnahme: György Kurtágs "Kafka-Fragmente" für Sopran und Violine, interpretiert von Juliane Banse und Andras Keller, 2006 veröffentlicht bei ECM.
György Kurtágs Musik, ist man versucht zu sagen, ist hier unglaublich einfach, oder scheint unglaublich einfach zu sein, sowohl was die tatsächlich zu hörenden Töne betrifft, als auch was das Konzept des Komponierens betrifft. Kurtágs Musik erfindet die Sprache, beziehungsweise die Emotion, die in diesen sprachlichen Miniaturen steckt, fast deckungsgleich noch einmal, nur ist es diesmal eben nicht Kafkas Schmerz, sondern Kurtágs Schmerz. Gemeinsam auf den Hörer losgelassen, kann dieses Weltschmerzpaket ziemlich intensiv werden.
Miniaturwelttheater
György Kurtág komponierte diesen insgesamt einstündigen Zyklus Kafka-Fragmente für die ja schon auch nervenaufreibende Besetzung Sopran und Violine in den frühen 1980er Jahren und schloss die Arbeit 1986 ab. Aus diesem - im Wortsinn - kafkaesken Kaleidoskop von Emotionen, Andeutungen, von Resignation, Verzweiflung und manchmal auch Ironie, die in diesen Fragmenten stecken, entstand in der Kurtágschen Zusammenstellung eine Art Miniaturwelttheater, das einen, wenn man sich darauf einlässt, durch eine Hochschaubahn der Gefühle schickt, allerdings eine Hochschaubahn, die deutlich mehr bergab rast, als bergauf zu gleiten.
In früheren Liederzyklen Kurtágs waren immer schon zwei Pole zu erkennen, etwas Mystisches, Apokalyptisches in einem fast religiösen oder zumindest geistlichen Sinn und in diesen Kafka-Fragmenten steckt davon natürlich wieder unglaublich viel drin, und andererseits die Liebe, das Ausgeliefertsein der Liebenden, die gnadenlose Verwundbarkeit, die auch zerstörerische Kraft des Eros. Und nur ganz selten gelingt dem Duo Kafka/Kurtág im Umgang damit ein Hauch von Selbstironie.
Lebensdilemma
Von der Liebe handeln die folgenden beiden Fragmente, zuerst in aller Abgründigkeit und dann unter dem Titel "Eine lange Geschichte" der Versuch, dem ganzen Lebensdilemma doch mit einer Spur Leichtigkeit beizukommen.
Zu spät. Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen zu sterben und das Sich-noch-Halten, das allein ist Liebe.
Und dann, direkt darauf:
Eine lange Geschichte: Ich sehe einem Mädchen in die Augen, und es war eine sehr lange Liebesgeschichte mit Donner und Küssen und Blitz. Ich lebe rasch.
Imaginäres Theater
Diese Kafka-Fragmente sind tatsächlich eine Art von imaginärem Theater, bestimmt durch diese so charakteristische musikalische Gestik des Komponisten Kurtág. Es ist, als ob die ganze Liedertradition, wenn nicht eigentlich expressive Operntradition, sich in diesen klingenden Miniaturgesten wieder finden würde.
Zwischen ganz einfachen Momenten zweier hin und herpendelnder Töne, lautmalerischer Tänze, weghuschender Gesten entsteht dieses imaginäre Miniaturtheater und immer versucht Kurtág, die Intensität seiner Gebärden am Siedepunkt zu halten, selbst dort, wo vorgeblich nicht viel passiert.
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Hör-Tipp
Zeit-Ton, Mittwoch, 12. Juli 2006, 23:05 Uhr
Links
Wikipedia - György Kurtág
ECM - Kurtágs "Kafka-Fragmente"