Christentum expandiert aggressiv

Religion und Gewalt

Fundamentalistische Selbstmordattentäter sind oft junge Männer mit guter Ausbildung. Was bewegt sie dazu, sich zu töten? Je strikter die Regeln einer Religion sind, desto mehr Potenzial hat sie, ihren Gläubigen zu einer klaren Identität zu verhelfen.

Islamwissenschaftler Peter Heine über islamisches Recht

Das Christentum boomt außerhalb Europas, aber nicht jenes der stillen und ein bisschen verschlafenen Innerlichkeit, die man in Europa kennt. Seit den 1970er Jahren sind dramatische religiöse Wandlungsprozesse zu beobachten.

Bei diesen Wandlungsprozessen denken die meisten von uns an den Islam und dann fällt sehr schnell das Stichwort Islamischer Fundamentalismus, sagt der renommierte Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf: "Das Christentum ist im Moment eine aggressiv expandierende Religion. Es sind vor allem die charismatischen, pfingstlerischen Formen des Christentums, die in erstaunlich kurzer Zeit bestimmte Gesellschaften Asiens, Lateinamerikas und auch Afrikas tief greifend verändern. Zum Teil lassen sich Radikalisierungsprozesse in islamischen Lebenswelten auch als Reaktionen auf Christianisierungsprozesse begreifen."

Vorsicht, wenn's um den Islam geht

Das Verhältnis von Religion und Gewalt ist wahrscheinlich noch nie so intensiv diskutiert worden wie seit den Anschlägen vom 11. September 2001.

Wenn es um Islam geht, mahnt der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine zur Vorsicht: "Der Islam ist eine Religion, die über 1400 Jahre alt ist, zu der sich 1,3 Milliarden Menschen bekennen, die in ihrer geografischen Ausbreitung von Indonesien bis Mauretanien reicht. Alle führen natürlich ihr spezifisches religiöses Leben, haben ihre eigenen Vorstellungen, über das, was sie unter Islam verstehen. Genauso wenig wie wir sagen können, es gibt das Christentum, wird man wahrscheinlich auch sagen können, dass es den Islam gibt."

Unsere Zeit ist religiös produktiv

Das prekäre Verhältnis von Religion und Gewalt war das Thema einer Diskussionsveranstaltung in der Pfarre St. Michael in der Wiener Innenstadt. Zur Zeit, so der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf, leben wir in einer religiös sehr produktiven Zeit.

So gab es um das Jahr 1900 rund 3900 christliche Konfessionen. Hundert Jahre später, zu Ende des 20. Jahrhunderts, zählen die Religionssoziologen mehr als 40.000 christliche Konfessionen. Ähnliche Tendenzen lassen sich weltweit verfolgen.

Auf der Suche nach Identität

Der religiöse Fundamentalismus, der sich in den letzten Jahrzehnten in allen Religionen - und nicht nur im Islam - ausbreitet, ist unter anderem ein Ergebnis der Suche nach harten Identitäten, geschuldet der Notwendigkeit, als Religion auf dem Markt der Religionen deutlich unterscheidbar zu sein. "Diejenigen, die klare, harte Botschaften haben, die sehr viel von ihren Gläubigen erwarten, setzten sich durch", so Friedrich Wilhelm Graf.

"In genau dem Maße, in dem sie mehr von ihren Gläubigen erwarten, bieten sie ihnen auch mehr", berichtet Graf. "Sie bieten in einer Zeit sehr schnellen sozialen Wandelns ein bemerkenswert krisenresistentes Weltbild. Sie bieten klare moralische Orientierungen. Das erleben wir nicht nur in den USA, sondern auch in Lateinamerika und Asien. Unter den Bedingungen des neuen religiösen Pluralismus sind Kuschelgötter wenig attraktiv, sie brauchen harte, strafende Götter, die kehren auf den meisten Religionsmärkten zurück."

Kommunikation durch Gewalt

Auf diesem Hintergrund bekommen fundamentalistische Terroranschläge wie z.B. der Anschlag vom 11. September auf das World Trade Center ein anderes Gewicht. Religiöse Gewalt hat nicht so sehr mit Religion, als mit Kommunikation zu tun.

"Diese Menschen haben sehr viel verstanden von dem, wie Religion in der Gegenwart funktioniert. In modernen pluralistischen Gesellschaften werden permanent auch Kämpfe um die Aufmerksamkeitsökonomie geführt. Insofern ist ein Großteil der neuen Religionsgewalt kein realer Krieg, sondern eine symbolische Besetzung von öffentlichen Räumen." Terrorismus lohnt also - denn dadurch erreicht man mediale Breitenwirkung.

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Hör-Tipp
Logos, Samstag, 8. Juli 2006, 19:05 Uhr

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St. Michael