Kein Vergessen in Leeds
Großbritanniens Muslime unter Verdacht
Großbritannien gedenkt dieser Tage der Opfer der Selbstmordattentate am 7. Juli 2005. Bei den Explosionen in U-Bahnen und Bussen waren 56 Menschen ums Leben gekommen. Niemand in Leeds wird je vergessen, dass die Attentäter von hier kamen.
8. April 2017, 21:58
Freitagsgebet in der Großen Moschee in Leeds
"Wie können junge, in England geborene Männer mit Akzenten aus Yorkshire derart von ihren Landsleuten entfremdet sein, dass sie eine solche Schreckenstat begehen?" Trevor Phillips, Leiter der britischen Kommission für ethnische Gleichberechtigung, stellt sich beängstigende Fragen.
Am 7. Juli 2005 hatten sich vier junge Männer mit Rucksäcken am Londoner U-Bahn-Kreuz King's Cross versammelt. Sie verteilten sich auf drei Linien, eine vierte hatte zufällig eine Betriebsstörung. Im morgendlichen Pendlerverkehr zündeten sie ihre selbst gebastelten Sprengsätze in drei Wagen der Untergrundbahn und, etwas später, in einem Doppeldeckerbus. Die vier jungen Männer töteten sich selbst und 52 Passagiere.
Zugehörigkeit und Selbstverständnis
Greg Mulholland, liberaldemokratischer Unterhausabgeordneter für die Stadt Leeds, wird den 12. Juli 2005 noch weniger vergessen als den 7. Juli. Denn da erfuhr er, dass drei der Bombenleger aus seiner eigenen Stadt stammten.
In einem posthum verbreiteten Bekenner-Video erklärt der Anführer der Attentäter, Mohammed Siddique Khan, er sei Soldat in einem Krieg. Nun sei es an den Briten, die Früchte dieser Lage zu kosten.
"Khan fühlte sich dem weltumspannenden Islamismus stärker verpflichtet als seinen englischen Mitbürgern", bilanziert Trevor Phillips, der sich von Amtes wegen mit den widersprüchlichen Elementen von Zugehörigkeit und Selbstverständnis beschäftigt.
Motive nicht aus dem Islam
Zahir Ahmed, der Berater der Stadtbibliotheken von Leeds für multikulturelle Fragen, legt die Gewichte anders: Dass die Täter aus Leeds gekommen waren, war schockierend, aber ihre Motive entsprangen nicht dem Islam. Die drei jungen Männer aus Leeds kamen aus pakistanischen Familien - genau wie der Bibliothekar.
Der vierte Mann war in der Karibik auf die Welt gekommen und später zum Islam konvertiert. Alle hatten englische Schulen besucht, sie spielten Cricket, aßen Fish and Chips und hatten teilweise kleine Kinder.
Niemand in Leeds wird je vergessen, dass sie von hier kamen. Für den Abgeordneten Mulholland ist das ein Auftrag.
Keine Rassenkrawalle
In anderen Ländern hätten diese Anschläge sehr wohl zu Rassenkrawallen führen können, aber in England fand ein Schulterschluss statt, lobt Dr. Mohammad Abdul Bari, der Generalsekretär des muslimischen Dachverbandes im Vereinigten Königreich, des Muslim Council of Britain.
Die Essenz der britischen Gesellschaft bestehe genau in dieser unaufgeregten Toleranz, meint Bari, ein Lehrer für verhaltensgestörte Kinder. Der Generalsekretär gibt Auskunft in einem kleinen Park in Whitechapel, im Osten Londons. Er selbst hat sein Ehrenamt erst Anfang Juni angetreten, gleichzeitig mit der Verhaftung von zwei muslimischen Brüdern durch ein Großaufgebot von bewaffneten Londoner Polizisten.
Der eine junge Mann wurde angeschossen. Von der chemischen Bombe, über die der Geheimdienst angeblich zuverlässige Informationen erhalten hatte, fehlt bis heute jede Spur, die beiden Brüder wurden ohne Anklage freigelassen.
Kriminalität und Terrorismus unter Muslimen müsse von der Gesellschaft als Ganzes bekämpft werden, und sie sind Teil dieser Gesellschaft, meint Bari. Sie unterstützen die Polizei, wenn diese sie beschütze.
Irrtümer und Verunsicherung
Aber mit jedem Irrtum und mit jeder Überreaktion steigen die Ressentiments der britischen Muslime, und ihre Klage, sie würden zum Sündenbock gestempelt, wird lauter. Die britische Regierung trägt zur Verunsicherung bei, indem sie ständig neue, und immer schärfere Anti-Terror-Gesetze erlässt.
Der gebürtige Bengale Bari hat seine Zweifel. Der muslimische Dachverband war gegen die meisten dieser neuen Gesetze, denn die vorhandenen Kompetenzen hätten oft vollauf gereicht. Bari vertritt die Meinung, britische Muslime seien bessere britische Bürger, wenn sie ihre eigene Kultur und Religion selbstbewusst und gelassen pflegten. Dann könnten sie auch locker mit den anderen Gruppen der Gesellschaft umgehen.
Integration statt Segregation
Segreation sei kein Ziel, positive Integration sei gut - aber nicht Assimilation nach französischem Vorbild, wo Muslime nicht sie selbst sein dürfen. Mit einem lyrischen Unterton plädiert der Vertreter der britischen Muslime dafür, die Verschiedenartigkeit der Menschen zu akzeptieren. Er träumt von einem bunten Blumengarten der Menschheit.
Mehr zum Jahrestag des Londoner Attentats in Ö1 Inforadio
Hör-Tipp
Journal-Panorama, Donnerstag, 6. Juli 2006, 18:25 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung nach Ende der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Links
The Muslim Council of Britain
City of London
Leeds City Council