István Eörsis letzter Roman
Im geschlossenen Raum
Er war eine ungarische Mischung aus Schwejk und Don Quichote: der im Oktober 2005 verstorbene Dichter und Dramatiker István Eörsi. Mit seinem letzten Roman hat Eörsi das beeindruckende Dokument einer unerschrockenen Selbstanalyse vorgelegt.
8. April 2017, 21:58
Der im Vorjahr verstorbene ungarische Autor István Eörsi hat versucht, einen Roman über István Eörsi zu schreiben, aber sich dabei eine Tarnkappe aufgesetzt, die er sich nach Belieben überziehen oder lüften kann. Eörsi heißt nämlich Borsi, und das gibt dem Erzähler folgende Möglichkeit:
Ich lasse das hochverehrte Publikum im Unklaren darüber, was tatsächlich geschehen ist und was ich hinzugedichtet habe. Ich mische der Wirklichkeit Fiktion bei. Wenn ich überlegt und mit sicherem Instinkt formuliere, kommt vielleicht ein Mehr an Wahrheit aus mir heraus.
Die Zeit der Wende
István Eörsi wurde 1956 wegen Beteiligung am Ungarn-Aufstand zu acht Jahren Haft verurteilt, die Hälfte davon hat er abgesessen. Um die Zeit zwischen der Entlassung aus dem Gefängnis und der Wende von 1989 geht es in dem Roman - reflektiert aus der Distanz des Jahres 2001, wo der Erzähler am 8. Juni in einem Budapester Kaffeehaus sitzt und auf seine Romanfiguren trifft.
Zwei sind es, die das Erzählen in Gang halten: Borsi und die Journalistin Erzébet Pallagi, eine Emigrantin, die gekommen ist, um Borsi zu interviewen. Der alternde, ewig balzende Schriftsteller und die junge Frau, die Helden-Perspektive des ehemaligen Dissidenten und der distanzierte Blick Erzébets, die das, was sie erfährt, in die demokratische "Normalität" einebnet, diese Kontraste geben dem Roman Tempo und Spannung.
Der geschlossene Raum als Metapher
"Worüber ich auch aus meinem Leben fabuliere", meint Borsi, "es steht ganz direkt oder höchst indirekt mit dem geschlossenen Raum in Verbindung". Der geschlossene Raum ist die Großmetapher für das Ungarn des Kádár-Regimes. Aber auch das Erzählen findet in einem geschlossenen Raum statt: im einsamen Haus auf einer Donauinsel nahe Budapest.
Für die junge Frau ist Borsi ein eitler Egomane, der mit seinem Scheitern prahlt und alles nur in Bezug auf sich selbst sehen kann. "Wie intakt erlittenes Unrecht in Ihnen lebt", sagt Erzébet, und:
Aus Ihren Worten ließe sich die Schlussfolgerung ziehen, dass nur, wer das Glück hatte, eingesperrt zu werden, nicht moralisch heruntergekommen ist.
Keine Verführung
Borsi und Erzébet liegen nebeneinander auf einem Bett, aber zwischen ihnen liegt ein Ruder; und dort bleibt es bis zum Schluss. Nicht nur die Verführung des alten Routiniers misslingt, auch die Dissidenten- und die Emigrantenperspektive lassen sich nicht harmonisieren.
Borsi hält sich seine Ablehnung jeden Kompromisses gegen die ungarischen Intellektuellen zugute. Seine Diagnose:
Die Intellektuellen verkündeten 1989 eine tief greifende Wende, das heißt, sie brachen mit dem System, das sie früher zum überwiegenden Teil unterstützt hatten.
Witz noch im ernstesten Argument
Manches von dem, was der Roman nachzeichnet, hat man so oder ähnlich schon einmal gehört, nicht zuletzt auch in Essays und Interviews von István Eörsi. Gelegentlich knirscht die Konstruktion des Romans, es ist nicht immer klar, wann Eörsi seinem Borsi ins Wort fällt. Aber diese kleinen Mängel fallen hier unter den Tisch - genauso wie die Nebenfiguren, die überzeugende Details einbringen, die im Dialog nicht zur Sprache kommen können.
Lesen sollte man diesen Roman nicht nur, um Ungarn zu verstehen, den im Westen oft verniedlichten ehemaligen Gulasch-Kommunismus, aber vor allem die heutige Situation, wo die Aufarbeitung der Vergangenheit schwieriger ist als in harten Diktaturen, wo die Rolle von Tätern und Opfern klarer war. Aber es braucht keine außerliterarischen Gründe, um diesen Roman zu lesen: Der Witz noch im ernstesten Argument, das rhapsodische Schwadronieren in Verbindung mit einer weiten Perspektive und so viel Welt im geschlossenen Erzählraum, das macht dieses Buch faszinierend.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Buch-Tipp
István Eorsi, "Im geschlossenen Raum", aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518417495