Eine Reise durch das 20. Jahrhundert
In Europa
"Ich wollte raus, Grenzen überschreiten, erfahren, was dieser nebulöse Begriff 'Europa' bedeutet", schreibt Geert Mak im Prolog seines Buches "In Europa", eines gescheiten, höchst anregenden und klug komponierten Reise- und Geschichtsbuches.
8. April 2017, 21:58
Vásárosbéc im Jahr 1999. In dem kleinen südungarischen Dorf scheint die Zeit still zu stehen. Der Müllmann dreht seine Runden noch mit Pferd und Wagen. Die Leute sind bettelarm, es gibt kaum Arbeit, man lebt von der Sozialhilfe. Viele versuchen ihr Glück in der Stadt. Die, die geblieben sind, streiten darüber, ob der Beitritt zur Europäischen Union einen neuen Wohlstand oder den endgültigen Ruin bedeutet. Viel Optimismus ist nicht zu spüren.
Mit Vásárosbéc, mit dem trostlosen Alltag in einem ungarischen Kaff, beginnt das neue Buch des niederländischen Journalisten Geert Mak, und mit Vásárosbéc endet es auch. Dazwischen: knapp 1.000 Seiten, die 100 Jahre europäischer Geschichte Revue passieren lassen und kreuz und quer durch Europa führen.
"1999 gab es in Vásárosbéc zwei Autos", erzählt Mak. "Jetzt, nach fünf Jahren, ist Vásárosbéc voll mit Autos, aber es gibt nur noch zwei Pferde im Dorf. Daran kann man auch sehen, wie wichtig die Modernisierung der Europäischen Union ist."
Amsterdam, Paris, London, Wien...
"Die verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts sind alle noch irgendwo existent", ist Geert Mak überzeugt, der für sein Buch ein Jahr lang durch Europa fuhr. Lokalaugenschein verbindet sich mit historischen Exkursen, Stadtporträt mit persönlichen Begegnungen und eigenen Beobachtungen.
Das erste der zwölf Kapitel beschäftigt sich mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und führt von Amsterdam nach Paris, London, Berlin und Wien. Paris, das ist für Mak die Stadt der Weltausstellung von 1900, aber auch der folgenreichen Affäre Dreyfus; London der Schauplatz der Finanzwelt, aber auch des tragischen Tods der Suffragette Emily Davison; in Berlin gilt sein Augenmerk dem penetranten Militarismus der Jahrhundertwende, aber auch den Tagebüchern einer Käthe Kollwitz; in Wien schließlich interessiert ihn dieser "merkwürdige Mischmasch aus Kreativität, Bürgerlichkeit, menschlichem Leid, Macht, Mitschuld und Schizophrenie": die Stadt der "fröhlichen Apokalypse".
Historische Ereignisse
Verdun 1916, Petrograd 1917, Guernica 1937, Dünkirchen 1940, Stalingrad 1943, Budapest 1956, Lissabon 1974, Danzig 1980, Srebrenica 1995 - Orte, von einem historischen Ereignis für immer geprägt, von Schlachten, Streiks und Aufständen, Revolutionen und Massenmorden; Orte, die Geert Mak am Ende des 20. Jahrhunderts besucht und beschreibt. Doch nicht nur die Weltgeschichte ist es, die den Autor umtreibt, ihn interessieren auch Literatur und Architektur, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, das geistige und geistliche Leben.
Immer wieder findet er Freunde und Gesprächspartner, die ihm ihre Erfahrungen anvertrauen: wie Max Kohnstamm, der über seine Zeit als Privatsekretär von Königin Wilhelma von den Niederlanden und Mitarbeiter von Jean Monnet berichtet, dem Vater der Europäischen Union, oder Sarita Matijevic, eine Journalistin, mit der er sich in Novi Sad unterhält, oder Aleksandar Tisma, der große serbische Schriftsteller. Je weiter Mak nach Osten kommt, desto desillusionierteren Zeitgenossen begegnet er.
"Der Unterschied innerhalb Europas zwischen Westen, Mitte und Osten wird langsam verschwinden", ist Mak überzeugt. "Das kann noch zehn, 20, 30 Jahre dauern, bei Rumänien vielleicht 50 Jahre. Ein anderer Unterschied innerhalb Europas, ein viel problematischerer, ist der zwischen den reichen Leuten in Europa und der Mittelklasse und der großen Gruppe von Leuten, die keine Perspektive, keine Arbeit haben. Diese Gruppe kann die Dritte Welt werden innerhalb von Europa."
Grenzen überschreiten
Nicht nur Europa, auch die Europäische Union ist eine Region der Gegensätze: In Polens Wirtschaft zum Beispiel sind Stein- und Braunkohlebergwerke dominierend, in der deutschen die Autoindustrie. Zwei "völlig unterschiedliche Zivilisationen" existierten hier nebeneinander, "zwei verschiedene Industriezeitalter sogar", sagt Mak, einen polnischen Historiker zitierend.
"Ich wollte raus, Grenzen überschreiten, erfahren, was dieser nebulöse Begriff 'Europa' bedeutet", schreibt Geert Mak im Prolog seines Buches "In Europa", eines gescheiten, höchst anregenden und klug komponierten Reise- und Geschichtsbuches, das geschickt Reportageelemente mit Essayistischem verbindet, literarische Zitate mit "Originaltönen", sachliche Beschreibungen mit persönlichen Anmerkungen - und das trotz der Länge nie langatmig wirkt.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Geert Mak, "In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert", aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke und Gregor Seferens, Siedler Verlag, ISBN 3886808262