Soziologie des Oben-ohne

Frauenkörper - Männerblicke

Jean-Claude Kaufmann versucht, durch seine Studien an den Stränden der französischen Küste Rückschlüsse auf die Funktionsweise unserer Gesellschaft zu gewinnen. In diesem Sinn dient ihm wohl die weibliche Brust als kultursoziologische Metapher.

Wie schon der Titel des Buches "Frauenkörper - Männerblicke" verrät, handelt es sich hierbei weder um eine Gesellschaftsstudie moderner Körpertheorien, noch um eine kritische Analyse der Geschlechterbeziehungen. Hauptaugenmerk des Buches ist zwar die Beziehung zwischen Frauen und Männern, hier aber zu verstehen als Sexualisierung des Frauenkörpers. Dieser wird zum passiven Objekt der Begierde und die Männer übernehmen die aktive Rolle von Besitzern, Betrachtern und Zensoren.

Verhaltenscodes und das Einhalten strikter Normen sind die Basis des Zusammenlebens unserer modernen Gesellschaft. Auf dem bekannten Werk "Über den Prozess der Zivilisation" des bedeutenden Soziologen Norbert Elias ist das Buch von Jean-Claude Kaufmann maßgeblich aufgebaut. Nach Elias erfolgt der Prozess der Zivilisation in einer ganz bestimmten Richtung und Ordnung und er beschreibt in seinem Werk, wie von verschiedenen Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird.

Reglementiertes Verhalten am Strand

Leider schafft es Jean-Claude Kaufmann nicht, seiner herangezogenen soziologisch-theoretischen Grundlagen gerecht zu werden. Angeregt durch Norbert Elias wäre es sicher interessant gewesen, den nackten Körper unter dem Aspekt des Prozesses der Zivilisation zu betrachten und gesellschaftliche Normen, Tabus und Geschlechterverhältnisse herauszuarbeiten und kritisch zu erörtern.

Die Sitten und Gebräuche des Strandes erfordern genaue Beobachtung, um jede stigmatisierende Geste zu vermeiden und sich nicht zu disqualifizieren. Dennoch kann sich nicht jeder ausziehen, und es ist auch nicht möglich, sich egal wie auszuziehen.

Das Reglement des Verhaltens am Strand bildet nicht das gesprochene Wort, der Sanktionsmechanismus ist der Blick des männlichen Beobachters. Kaufmann beschreibt zwar unterschiedliche Phänomene, reißt aber alles nur an der Oberfläche an.

Und umgekehrt?

Zu der Frage nach dem Sinn dieser Untersuchung stellt sich eine weitere grundlegende: Was ist mit dem weiblichen Blick auf den männlichen Körper? Oder ist der männliche Körper unantastbares Spezifikum, die körperlose Norm wissenschaftlicher Analysen? Geschlechtsspezifische Stereotypisierungen sind nicht nur ein fixer Bestandteil dieses Buches, sondern diese werden, ohne sie kritisch zu hinterfragen - was ja gerade bei einer gesellschaftliche Analyse von großer Bedeutung wäre - einfach im Raum stehen gelassen.

Dem Anspruch nach einer kultursoziologischen Studie mit neuem Erkenntnisgewinn wird der Autor mit diesem Buch nicht gerecht. Es wirkt eher wie eine banale Abhandlung eines reißerischen Themas: die nackte weibliche Brust. Wild durcheinander gebrachte subjektive Annahmen des Autors über den entblößten Frauenoberkörper, die sich ohne wirklichen soziologisch-theoretischen Background und ersichtliches Schema durch das Buch ziehen, zeichnen dieses aus.

Weiterer Kampf geen Tabus

Unsere Gesellschaft definiert sich als freizügig, was den Umgang mit dem Körper betrifft. Sexualität und Nacktheit sind aber nach wie vor das Ergebnis mächtiger Diskurse. Betrachtet man die gesellschaftlichen Wert- und Moralvorstellungen und die Bedingungen und Formen menschlichen Zusammenlebens, wird man zu der Erkenntnis gelangen, dass unsere Gesellschaft noch gegen viele Tabus zu kämpfen hat. So ist auch die so genannte Befreiung des Körpers noch nicht überwunden, sondern eine Frage unterschiedlicher Interpretationen.

Seinen Weg in die Lehre wird dieses Buch wohl nicht finden und ob es, wie schon zu Beginn der Autor anmerkt, als Handbuch des Savoir vivre, als Strandführer, der versteckte Mechanismen aufdeckt, einen Durchbruch erlebt, das sei dahingestellt.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Jean-Claude Kaufmann, "Frauenkörper - Männerblicke. Soziologie des Oben-ohne", UVK Verlag, ISBN 3896695568