Daniel Kehlmann, Schriftsteller

Richtungsdebattenverweigerer

Mit 19 Jahren schrieb er seinen ersten Roman. Mit knapp 32 kann er auf ein umfangreiches Werk zurückblicken. Daniel Kehlmanns jüngster Roman fand sich wochenlang in der "Spiegel"-Bestsellerliste und verdrängte sogar "Harry Potter".

"Erzählen, das bedeutet einen Bogen spannen, wo zunächst keiner ist, den Entwicklungen Struktur und Folgerichtigkeit gerade dort verleihen, wo die Wirklichkeit nichts davon bietet." Wer diese Sätze liest, ahnt, dass es für Daniel Kehlmann keinen schöneren Beruf als jenen des Erzählers geben kann.

Michael Kerbler: Wenn man sich die Wortmeldungen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu Peter Handke ins Gedächtnis ruft, dann kommen sie allesamt aus der Handke-Generation. Es hat kaum Wortmeldungen aus Ihrer Generation gegeben. Norbert Kron, ein deutscher Schriftsteller - sein jüngstes Buch heißt "Autopilot" - beklagt die Bedeutungslosigkeit seiner Autorengeneration und - wie er das nennt - die Dominanz der Flakhelfergeneration. Zitat: "Wir, die hier beisammen sitzen, sind zwischen 30 und 40, und es ist die verblüffende, verstörende Wahrheit, dass noch immer die 60- bis 80jährigen die Richtungsdebatten in Deutschland auslösen. Wer von den jüngeren hätte in letzter Zeit einen Skandal ausgelöst?" Herr Kehlmann, haben die Jungen nichts zu sagen?
Daniel Kehlmann: Die Frage ist: Wer will denn so einen Skandal auslösen? Ist das denn so ein dringendes Anliegen für Schriftsteller, Richtungsdebatten zu liefern? Ich denke das wesentliche Anliegen für einen Schriftsteller sollte sein, gute Bücher zu schreiben.

Es ist eine problematische Fehlentwicklung auch der deutschen Literatur der Nachkriegszeit gewesen, dass man ständig erwartet hat, dass Schriftsteller Richtungsdebatten führen. Ich erinnere mich, es gab vor einigen Jahren anlässlich eines runden Max-Frisch-Geburtstags eine ganz, ganz umfangreiche 3sat-Retrospektive, wo - abgesehen von sehr vielen Stücken - natürlich auch sehr viele Interviews gezeigt wurden, Stunden um Stunden Interviews.

Ich bin ein ganz großer Anhänger von Max Frisch und hab mich sehr darauf gefreut, und ich hab mir sehr viel davon angeschaut - gerade die Interviews -, und es war eine furchtbare Enttäuschung für mich!

Ich hätte so gerne Max Frisch über das Problem der Identität sprechen hören, das ihn ja so beschäftigt hat, oder über seine Romane, über "Stiller", über "Mein Name sei Gantenbein", über seine Ästhetik, darüber, wie er seine Romane konstruiert hat.

Es ging die ganze Zeit nur um Wiederbewaffnung, die gerade aktuellen deutschen Wahlen, es ging die ganze Zeit nur um Tagespolitik, und Max Frisch, einer der größten Schriftsteller seiner Generation, hat darüber gesprochen auf einem Niveau, wie das sehr viele andere Zeitgenossen auch hätten tun können. Niemand hätte so kompetent über seine Romane, und kaum einer hätte so kompetent über das Schreiben sprechen können. Aber er stand unter diesem Zwang, wie Kron das nennt, Richtungsdebatten vorzugeben.

Ich habe mal vor einigen Jahren eine Veranstaltung moderieren dürfen mit Reinhard Baumgart, dem großen alten Doyen der deutschen Literaturkritik damals, der inzwischen gestorben ist, der bei allen Sitzungen der Gruppe 47 dabei war.

Ich hab mir ein Herz gefasst und ihn gefragt: Würden Sie eigentlich rückblickend sagen, als einer der Protagonisten, dass das Wirken der Gruppe 47 ein Glück für die deutsche Literatur war? Er überlegte einen Moment und sagte: "Niemand, der auch nur einigermaßen bei Sinnen ist, könnte das bejahen." Also ich finde es gut, dass es in dieser Hinsicht nicht mehr so ist wie in den 60er- und 70er-Jahren.

Claus Philipp: Teilweise mag man Ihnen zustimmen und sagen, es wäre natürlich besonders interessant, würden diese Leute von ihrem Handwerk erzählen und dieses Handwerk weiter denken. Andererseits kann ich mir gewisse Debatten in den 60er- und 70er-Jahren ohne eine Beteiligung der Intellektuellen - Sartre in Frankreich, oder Handke - nicht vorstellen. Wenn diese Leute nicht Öffentlichkeiten betreten hätten mit ihren ... was man heute als "Richtungsdebatten" auch schon wieder ein bissl polemisch bezeichnet, dann hätte sich vielleicht gar nichts in Bewegung gesetzt?"
Daniel Kehlmann: Ja, das ist richtig. Aber eben die Dinge, die damals noch viel bewirkt haben, werden dann sehr schnell formelhaft, sehr schnell ritualhaft. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen - widersprechen Sie mir, wenn ich Unrecht habe -, dass, wenn Sie im "Standard" im Zuge eines aktuellen Problems, Skandals, Ereignisses wie zum Beispiel diese Handke-Preisgeschichte, wenn Sie nun einen Rundruf machen an Intellektuelle und Schriftsteller um Stellungnahmen, dass Sie schon ziemlich genau wissen, was Sie kriegen werden und von wem.

Ich könnte mir vorstellen, dass Sie vieles eigentlich schon selbst schreiben und formulieren könnten, wenn der Betreffende gerade keine Zeit hat. Das heißt, die Sache wird sehr schnell zum Ritual.

Claus Philipp: Ich kann Ihnen da durchaus zustimmen, dass man in der Tat sehr oft weiß, was man von jemandem bekommen wird. Es ist nur auf der anderen Seite so, dass man vielleicht überdenken müsste: Wie ist die mediale Konstruktion gegenwärtig? Ich kann mich erinnern, vor zehn Jahren, als solche Rundrufe sehr beliebt waren, und da hätten wir Listen gehabt "Daniel Kehlmann - Doppelpunkt - Handke muss unbedingt gerettet werden; Elfriede Jelinek - Doppelpunkt - Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll" etcetera. Es könnte ja sein, dass es an diesem Mechanismus der Medien liegt, dass der Reflex so zelebriert wird und dass nicht vielstimmigere, feinere Klänge hier ins Gefecht kommen?
Daniel Kehlmann: Und eben die richtige Art, auf diesen Mechanismus zu reagieren, ist meiner Meinung nach doch eine gewisse Zurückhaltung, die auch wieder den Vorteil hat, dass man dann, wenn man einmal wirklich etwas zu sagen hat, auch ein politisches Anliegen oder ein gesellschaftliches, das einem nun wirklich sehr, sehr wichtig scheint und von dem man wirklich der Meinung ist "das muss man jetzt sagen", dass man es dann mit einer ganz anderen Wirkkraft tun könnte, weil man sich nicht ständig zu allem geäußert hat.

Ich denke, die einzige Möglichkeit auf diesen Mechanismus zu reagieren, ist Zurückhaltung und eben eine Konzentration auf das, was eigentlich der Job ist, nämlich das Bücherschreiben.

Michael Kerbler: Herr Kehlmann, was müsste denn in unserem Land passieren, dass Sie sich zu Wort melden?
Daniel Kehlmann: Das kann ich Ihnen nicht so konkret beantworten. Wenn es passiert, dann werden Sie's schon merken.

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