Der letzte Faden, an dem alles hing - Teil 2

Enge Hosen und der erste Megastore

In der Anti-Mode des Fußballs in den 1970er Jahren manifestierte sich der sture Stolz einer todgeweihten Working Class, während draußen in der echten Welt des Monetarismus großzügige Bundfaltenhosen, ballonförmige Sweater und Fönfrisuren regierten.

Philippe Auclair, Songwriter, Sänger und Weinkenner, ist im Brotberuf Fußballkorrespondent in London, unter anderem für das französische Magazin France Football. Also ist er kenntnisreich und distanziert genug, um ein Phänomen zu erklären, das nirgends so ausgeprägt und mit sozialer Bedeutung beladen ist wie in Großbritannien: die seltsame Beziehung zwischen Fußballkleidung und Straßenmode.

"In den frühen Siebzigern", so Auclair, "hinken wir der Populärkultur um einen Taktschlag hinterher. 1963 hatten die Fans im Stadion noch 'She Loves You' gesungen und den Rest der Woche in den Docks gearbeitet. Ende der Sechziger oder Anfang der Siebziger waren sie bereits entlassen und arbeitslos. Wir sprechen hier von der Entwurzelung der Arbeiterklasse, die ihrerseits die Wurzel des Spiels war. Der Fußball macht indessen so weiter, als wäre nichts gewesen. Die Dresse folgen nicht mehr ihrer Zeit, das einzige, was sich verändert, sind die Frisuren der Spieler. Die Trikots werden höchstens noch enger und die Hosen lächerlich klein. Die Fußballer sehen sehr seltsam aus. Selbst die Mannschaften aus Liverpool tragen in den achtziger Jahren immer noch diese engen Shorts, diese ulkigen Tops und die eigenartigen Stutzen, aus denen die Schienbeinschützer rausschauen. Von den Dauerwellen ganz zu schweigen."

In der Anti-Mode des Fußballs manifestierte sich also der sture Stolz einer todgeweihten Working Class, während draußen in der echten Welt des Monetarismus großzügige Bundfaltenhosen, ballonförmige Sweater und Fönfrisuren regierten.

Selbst als gegen Ende der Achtziger die so genannte "Casual Revolution", das Freitags erlaubte Tragen sportlicher Kleidung im Büro, auch auf Fußballtribünen ausstrahlte und der auf teure Sportswear-Marken fixierte, saloppe Kleidungsstil der Hooligans in die Straßenmode der britischen Städte durchsickerte, blieb das Design der Fußballdresse davon unbeeindruckt.

Doch zu Anfang der Neunziger sollte sich das Blatt entscheidend wenden. Von nun an war es die Fußballkleidung, die ihrerseits die Straßenmode mitbestimmte. Grund dafür war eine schlaue Geschäftsidee: "Der eine Verein, der alles veränderte, war nicht Manchester United, nicht Liverpool, nicht Arsenal, sondern Tottenham Hotspur", verrät Philippe Auclair.

"Dieser Club erschuf den ersten Megastore für Originaldresse. Wir sprechen von der Ära der Gascoigne, Hoddle und Waddle, die mit dem FA Cup 1991 ihre letzte große Trophäe erringen sollten. Die Direktoren von Tottenham Hotspur hatten als erste begriffen, dass sich mit diesen Dressen gutes Geld machen ließ. Die anderen kriegten das schnell mit, eine neue Generation von Geschäftsleuten eroberte die Club-Direktionen."

Die Idee originalgetreu massenproduzierter, so genannter "Replica Kits" fällt mit der Gründung der Premier League und dem Verkauf exklusiver Satelliten-TV-Rechte zusammen. Die großen Clubs schwammen im Geld. Mitte der Neunziger erlebte Großbritannien zudem eine Art Retro-Euphorie. Die neue Mittelklasse der Monetarismus-Gewinner suchte nach ihren Wurzeln, die alte Arbeiterklasse wurde idealisiert.

"Fußball", meint Philippe Auclair, "war der letzte Faden, der England noch mit seiner sozialen Vergangenheit verband. Der Fußball hatte die Achtziger gerade noch überlebt. Jetzt begeisterte man sich wieder für ihn. Aber die Art und Weise, in der die neuen Fans im Stadion ihre Loyalität zeigten, war nicht mehr das Singen von Liedern, sondern der Kauf des originalen Teamtrikots. Mit einem Mal schossen Geschäfte wie 'Soccer Scene' in der Carnaby Street aus dem Boden. Ist das nicht symbolisch? Just in der Straße, in der früher einmal die flotteste Mode zu bekommen war, wurden jetzt Fußballtrikots verkauft."

Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.

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