Auf der Suche nach Genialität
Halber Sieg der Sekundärtugenden
Die Außenseiter dieser Fußball-WM haben es bisher geschafft, schwere Niederlagen zu vermeiden. Das war nicht immer so. Am 1. Juni 2002 schlug Deutschland bei der WM Saudi-Arabien 8:0, einer der höchsten Siege in der Geschichte der Fußball-WM.
8. April 2017, 21:58
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Korea schlug Deutschland das Team von Saudi Arabien 8:0. Dies war einer der höchsten Siege in der Geschichte der Fußball-WM und gleichzeitig ein Zeichen für das große Leistungsgefälle, das damals zwischen den teilnehmenden Mannschaften bestand.
Der Grund für den hohen Sieg der Deutschen lag weniger in ihrer spielerischen Stärke, sondern vor allem in der Schwäche des Gegners. Die arabischen Kicker waren zwar hoch motiviert und individuell durchaus begabt, es gab jedoch keine taktische Disziplin, kein erkennbares Spielkonzept.
Dem Team der Saudis fehlte durchwegs, was der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal ganz allgemein als wichtige Tugenden bezeichnete: Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Oskar Lafontaine, damals innerparteilicher Gegenspieler, konnte mit dem Credo Schmidts nichts anfangen und bezeichnete 1982 in einem Interview mit der Illustrierten Stern die geforderten Eigenschaften als Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ betreiben könnte.
Lässt man die Geschmacklosigkeit von Lafontaines Vergleich einmal beiseite und kehrt man von der höheren Staatsphilosophie in die Niederungen der Fußball-Spielsysteme zurück, so fällt auf, dass sich die vermeintlich Kleinen bei der Fußball-WM in Deutschland vor allem im Bereich der Sekundärtugenden deutlich verstärkt haben.
Die seinerzeit geprügelten Saudis erreichen gegen Tunesien ein 2:2, Angola ringt den hoch eingeschätzten Mexikanern ein torloses Remis ab, Costa Rica und Ecuador schlagen sich wacker (ohne allerdings Hoffnungen auf ein Mitreden in der Entscheidungsphase der WM haben zu dürfen).
All diesen "kleinen" Fußball-Nationen ist es gelungen, sich im taktischen Bereich deutlich zu verbessern. Disziplin wird groß geschrieben, die Viererkette funktioniert, der Spielaufbau des Gegners wird früh gestört, aus gewonnen Zweikämpfen im Mittelfeld entspinnen sich Chancen auf eigene Treffer. Man sieht: Disziplin und Organisation im eigenen Spiel sind der halbe Sieg.
Was aber fehlt diesen Nationen noch zur absoluten Weltspitze? Es sind die individuelle Klasse und die Genialität von Einzelspielern, wie es sie bei den Argentiniern (Riquelme, Messi, Tevez), bei den Brasilianern (Ronaldinho, Ronaldo, Kaká, Roberto Carlos) zu Hauf gibt, bei den Italienern (Totti), den Franzosen (Henry, Ribery) und den Niederländern (van Persie, van der Vaart) wenigstens vereinzelt.
Gerade diese besonders Begabten sind es aber, die imstande sind, das Korsett der Sekundärtugenden abzulegen. Kraft ihres Talentes und ihrer fußballerischen Intelligenz können sie die primären Tugenden beim Kampf um das runde Leder zur Geltung bringen: Das "Lesen" eines Spiels, die Entwicklung des Spielzuges vorauszuahnen und den Ball dementsprechend annehmen, den unerwarteten Pass spielen, das Tempo des Spiels variieren und mit all diesen Mitteln die gegnerische Mannschaft überwinden, die nur über die Sekundärtugenden verfügt.
Zwei Mannschaften haben es bisher bei dieser WM geschafft, beide Tugenden zu vereinen: erstens die Argentinier, die mit viel Disziplin und noch mehr Genialität der biederen Mannschaft aus Serbien und Montenegro sechs Tore schossen; einem Team, dem man viel mehr zugetraut hatte und das unter anderem deshalb unter die Räder kam, weil es im Fortlauf des Spieles auf die sekundären Tugenden vergaß.
Und zweitens - und das ist eine der positiven Überraschungen der WM - die Mannschaft aus Ghana, die gegen die Tschechen, einen Geheimfavoriten auf den WM-Titel, ein Feuerwerk an Spielkultur und gleichzeitig jede Menge Organisation und Disziplin zeigte.
Wie gesagt: der Erwerb der Sekundärtugenden ist eine Voraussetzung für den Anschluss an die Weltspitze. Sich dort aber durchzusetzen, das möge heuer hoffentlich einer Mannschaft gelingen, die eben auch das spielerische Moment beherrscht. Sonst wird am Ende doch noch Deutschland Weltmeister
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