Erzählungen von Olga Tokarczuk

Spiel auf vielen Trommeln & Letzte Geschichten

Die 1962 in Sulechów geborene Olga Tokarczuk gilt als die populärste polnische Autorin der jüngeren Generation. Nun sind gleich zwei Bücher von Olga Tokarczuk auf Deutsch erschienen. "Letzte Geschichten" und "Spiel auf vielen Trommeln".

Von 2001 bis 2002 lebte Olga Tokarczuk als Stipendiatin in Berlin. "Spiel auf vielen Trommeln" ist die literarische Umsetzung dieses Aufenthaltes in der deutschen Hauptstadt. Das Berlin, das die Autorin präsentiert, hat mit der glitzernden Metropole, über die sonst gesprochen wird, denkbar wenig gemein.

Die Wohnung der Schriftstellerin lag am Kreuzberger Mariannenplatz und wenn Tokarczuk aus dem Fenster blickte, dann sah sie nicht die schicken Yuppies aus Berlin Mitte, sondern soziale Randgruppen: türkische Familien, herumlungernde Jugendliche und Obdachlose. Noch verstörender aber waren die Geräusche, die Tokarczuks Alltag begleiteten, denn Tag und Nacht, sommers wie winters, trommelten die versammelten Menschen.

Wenn man jeden Abend dieses Trommeln hört, fängt man an, alles anders zu sehen. Ein Alarmtrommeln, ein Warntrommeln, ein Wecktrommeln.

Wenn das Leben aus dem Ruder läuft

"Spiel auf vielen Trommeln", die Titel gebende Erzählung, ist der längste der sechs Texte. Wie verhalten sich Menschen, wenn Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden, wenn das Leben aus dem Ruder zu laufen droht? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte.

Die Ich-Erzählerin verliert im Laufe der Geschichte langsam ihre Identität. Als sie in die Stadt kam, wusste sie noch, wer sie war. Am Ende aber hat sich das Ich aufgelöst, ist verloren gegangen im Getrommel der Nomaden. Die Erzählerin wird zur Frau ohne Eigenschaften, zu einem Passagier öffentlicher Verkehrsmitteln und zu einer Parkbanksitzerin. Mit einem Wort: Sie wird zur Großstadtbewohnerin.

Auf der Suche nach sich selbst

Das Verlieren des Halts ist auch das Thema von Tokarczuks Roman "Letzte Geschichten". So wird eine Frau namens Ida gleich zu Beginn des Buches buchstäblich aus der Bahn geworfen. Sie ist nachts mit dem Leihwagen im tief verschneiten Südpolen unterwegs, als das Auto von der Straße abkommt. Der Wagen ist Schrott, aber wenigstens bleibt Ida unverletzt. Bei einem verschrobenen Ehepaar findet sie Unterschlupf. Nur kurz will sie bleiben, bis das Wetter sich bessert. Aber Ida kommt von diesem Ort nicht mehr los. Wie in den Erzählungen verliert sich auch hier die Erzählfigur im Wahnsinn.

In "Letzte Geschichten" verwebt Tokarczuk kunstvoll das Leben dreier Frauen. Alle sind sie einsam, alle auf der Suche nach sich selbst. Ihre Lebenswege treffen sich an einzelnen Punkten. Subtil gelingt es der Autorin anhand dieser Frauen das Porträt einer ganzen Gesellschaft zu zeichnen, und das der Region im südwestlichen Polen, an der Grenze zu Tschechien.

Durchschnittstode

Tod, Wahnsinn, Isolation. Sowohl in ihren Erzählungen als auch in ihrem Roman greift Tokarczuk die großen Themen des Seins auf. Was ist das Leben? Wie kann man über den Tod schreiben, ohne ihn zu glorifizieren? "Letzte Geschichten" sei - so die Autorin - "ein Buch über gewöhnliche Durchschnittsmenschen und ihre gewöhnlichen Durchschnittstode".

Innerhalb eines Jahres hat sie beide Eltern verloren. Sie hat immer gemeint, der Tod müsse etwas Großartiges haben, alles, was damit verbunden ist, müsse erhaben sein. Doch offensichtlich ist er genauso misslungen wie das Leben.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 16. Juni 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 18. Juni 2006, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Olga Tokarczuk, "Spiel auf vielen Trommeln. Erzählungen", aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky, Matthes & Seitz Verlag, ISBN 3882211075

Olga Tokarczuk, "Letzte Geschichten", aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky, DVA, ISBN 3421059020

Veranstaltungs-Tipp
Olga Tokarczuk liest aus ihren Büchern, Mittwoch, 28. Juni 2006, Polnisches Institut