Der Schopf des Philosophen - Teil 1

Das Frisurenduell

Am Abend vor dem Weltmeisterschafts-Finale gegen Deutschland hatte der brasilianische Mittelstürmer Ronaldo einen Einfall. Er bestellte seine persönliche Assistentin aufs Zimmer des Luxushotels "Green Cottage" und setzte sich mit ihr an den Schreibtisch.

"Wir werden morgen gewinnen", sagte Ronaldo nachdenklich. "Und ich werde der Mann des Spiels sein. Wie kann ich diesen Augenblick für die Ewigkeit konservieren?"

Die Assistentin wunderte sich. Zwar hatte Ronaldo noch nie an Selbstzweifeln gelitten, aber an seiner Stelle wäre sie doch etwas vorsichtiger gewesen. Schließlich hatte ausgerechnet Wunderstürmer Ronaldo vier Jahre vorher im WM-Endspiel seiner Equipe gegen Frankreich eine Nullnummer abgeliefert. Brasiliens Fans glaubten nach der 0:3-Schlappe gegen Frankreich allen Ernstes, Ronaldo sei vor dem Spiel von einem Schlaganfall gestreift worden.

"Vielleicht solltest du unter dein Trikot ein T-Shirt anziehen, auf dem 'The Greatest' steht oder so was", sagte Ronaldos persönliche Assistentin. Sie kannte die Vorlieben ihres Chefs für Ideen, auf die er durchaus auch selbst kommen könnte.

Ronaldo räusperte sich wenig begeistert. "Hab ich mir auch schon gedacht." Er ließ lange Sekunden vergehen. "Aber 'The Greatest'...? Was heißt überhaupt 'The Greatest'?"
Die Assistentin seufzte und strich the greatest von der Liste.

"Was hältst du von 'Ronaldissimo'?"
"Besser", antwortete Ronaldo und sein Blick schweifte schwärmerisch über das verschwenderische Interieur seines Zimmers, um sich zwischen Palisander und Lack in die Vorstellung zu verlieren, wie ein breit grinsender Ronaldo, Markenzeichen: Lücke zwischen den Schneidezähnen, mit gestrecktem Zeigefinger der rechten Hand hinter dem Tor der Deutschen verschwindet und dort das gelb-grüne Trikot der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft lüftet, so dass auf der ganzen Welt - Einschaltquote zwei Milliarden - zu lesen ist, welcher Superlativ diese außergewöhnliche Leistung möglich gemacht hat...

"Könnte man mir 'Ronaldissimo' als Eitelkeit auslegen?"
Die Assistentin zuckte mit den Schultern. Das könne man nicht hundertprozentig ausschließen.
Ronaldos Gesichtsmuskeln verloren an Spannung. Er dachte nach. Für seine Begriffe konnte man, was er gerade tat, als Grübeln bezeichnen.
"Eine neue Frisur?"
Ronaldos Assistentin hatte nicht gewusst, dass sich ihr Chef so schnell bewegen konnte. Mit einer runden, eleganten Bewegung war er aus seiner etwas nachlässigen Sitzposition aufgeschnellt und starrte ihr strahlend, Markenzeichen: Lücke zwischen den Schneidezähnen, in die Augen. Dann rief er mit eigenartig hoher Stimme: "Jetzt haben wir Beckham am Arsch!"

Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.

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