Catalin Dorian Florescu erzählt
Der blinde Masseur Ion Palatinus
Es ist schon irgendwie tragisch, sagt Catalin Dorian Florescu, dass Ion Palatinus, der blinde Masseur, genau dann starb, als er bekannt wurde. Aber zumindest hat er noch "seine Papierwerdung" erlebt: das Erscheinen von Florescus Buch "Der blinde Masseur".
8. April 2017, 21:58
Die Geschichte vom blinden Masseur, der irgendwo in einem kleinen Kurort namens Moneasa am Westabhang der Karpaten lebte, ist eine Geschichte des Nicht-Aufgebens: Ion Palatinus erblindete mit 17 Jahren. Das letzte Buch, das er gelesen hatte, war "Krieg und Frieden". Und dann sollte er ohne Bücher leben? Das wollte Ion Palatinus nicht zulassen. Und dann kam er auf folgende Lösung: vorlesen lassen. Bücher hören. Auf Kassetten aufnehmen lassen.
Tausche Lese- gegen Hörbuch
"Er hat seine Patienten überredet, dass sie ihm die Werke der großen Weltliteratur vortrugen", erzählt der deutschsprachige Autor Catalin Dorian Florescu. "Aber auch die Leute im Tal, Arbeiter, Bauern, die Angestellten des Kurortes, der Bürgermeister lasen für ihn. Scharenweise haben sie im Verlauf der letzen Jahrzehnte alles hörbar gemacht, was er in seiner sagenhaften, an die 30.000 Bücher umfassenden Bibliothek in seiner kleinen Zweizimmerwohnung gehortet hatte. Die meisten dieser Menschen hätten ohne ihn nie Kontakt zur Literatur gefunden."
Inmitten des Cudro-Moma-Gebirges, im 200 Häuser großen Kurort Moneasa, entstand irgendwann in den 1970er Jahren rund um die Person Ion Palatinus ein Bedürfnis nach Büchern und Geschichten. Junge Leute kamen zu ihm, holten Lesestoff für sich - im Austausch gegen Hörstoff für ihn. Der blinde Masseur, eine Kulturinstitution.
Zum Buch geworden
Fünf Philosophen seien seither aus Moneasa in die Welt gezogen, berichtet Catalin Dorian Florescu. "Es ist wirklich das Ende der Welt", erzählt er, "dieses Dorf, in dem Ion Palatinus seit mehr als 32 Jahren als Masseur arbeitete. Hinter dem Dorf ist nur mehr Wald mit Bären und Wölfen. Als ich ankam, traf ich ihn, wie er in seiner kleinen, zu einer Buchhandlung auf Rädern umgebauten Eisdiele Schelling hörte. Und seinen Tag beendete er, dass er einer Patientin zuhörte, die ihm Dostojewski vorlas."
Selber zum Buch zu werden, dürfte Ion Palatinus gefallen haben. Aber er stellte zur Bedingung, dass er als Romanfigur seinen Namen behalten dürfe, und dass er nicht freundlicher oder netter dargestellt würde, als er auch in Wirklichkeit sei. Und besonders genossen hatte er, dass ihm "sein Buch" samt "seinem Autor" in der bekanntesten Samstagabend-Show des rumänischen Fernsehens "Surprise, Surprise" geschenkt wurde.
"Das ist eine dieser Shows, die von den kamerawirksamen Tränen der Beschenkten und den nicht enden wollenden Umarmungen auf der Bühne lebt, weil Menschen mit Dingen überrascht werden, oder mit Menschen, die sie lange nicht gesehen haben. Ion wurde eingeladen, aber er wusste nicht, was ihm bevor stand", erzählt Florescu. "Alle seine Freunde haben dicht gehalten. Er wurde zu seinen Büchern befragt, und er gab sehr kluge, auch sozialkritische Antworten, analysierte die Gesellschaft, die den Bezug zum Buch verloren hat und nicht mehr lesen will. Dann wurde ihm mein Buch von einer spärlich bekleideten Dame in die Hände gelegt, nachdem sie tanzend einen weiten Weg quer über die Bühne zurückgelegt hat. Und dann wurde ich ihm gebracht."
Todesursache Armut
Diese Freude überlebte Ion Palatinus nicht lange. "Es war die Armut, die ihn getötet hat", sagt Catalin Dorian Florescu, "und die Sturheit der Behörden. Er hatte um Erhöhung seiner Blindenrente angesucht, und die wurde ihm mit dem Argument verweigert, dass er nicht während seiner Arbeit erblindet ist. Außerdem wollte man ein Dokument von ihm, das er nicht bringen konnte. Das hat ihn so aufgewühlt, dass er Ende April 2006 einem Herzinfarkt erlegen ist."
Und nun ginge es für seine Freunde darum, die riesige Bibliothek samt ihren Tondokumenten zu erhalten; auch als Quelle für zukünftige Geschichten. "Was für Geschichten stecken hinter all diesen Stimmen", schwärmt Catalin Dorian Florescu, "Stimmen, die man durch 30 Jahre immer wieder hören kann, die sich verändern, so wie sie das Leben verändert hat. Die vor 30 Jahren jung waren, zuversichtlich, hell und kraftvoll, und jetzt vielleicht matt und müde klingen. Stimmen, die gerade frisch verliebt waren, Stimmen, die es heute nicht mehr gibt."
Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 8. Juni 2006, 11:40 Uhr
Buch-Tipp
Catalin Dorian Florescu, "Der blinde Masseur", Pendo Verlag, ISBN 3866120796
Link
Karpatenwilli - Wanderung durch das Codru-Moma-Gebirge