Die zentralistische Buddhokratie und was davon blieb
Neuigkeiten aus Tibet
Die neuere Forschung zeichnet ein sehr differenziertes Bild von der Gesellschaft des alten Tibet. Die Vorstellung einer zentralistischen Buddhokratie lässt sich aber im Licht der neueren sozialgeschichtlichen Forschung nicht halten.
8. April 2017, 21:58
Kelsang Gyaltsens neuer Blick auf die tibetische Kultur
Durch Jahrhunderte galt Tibet als ein unzugängliches Land und die Religion der Tibeter als etwas sehr Geheimnisvolles. Dazu trägt auch die geographische Lage Tibets bei, denn Tibet liegt auf einer Hochebene mitten im Himalaya, rund zwei bis viertausend Meter über dem Meeresspiegel.
Erst seit einigen Jahrzehnten haben Forscher genauere Einblicke in die Geschichte und die Geschichten Tibets bekommen. Dadurch entstand auch ein sehr differenziertes Bild von der Gesellschaft des alten Tibet.
Die Berggeister von Ladakh
"Der Weg nach Tibet war nie einfach", sagt der Wiener Tibetologe Hans Peter Mathes: "Vielleicht liegt es an der Abgeschlossenheit Tibets, dass sich bis heute in der tibetischen Kultur Vieles erhalten hat, was in anderen Traditionen durch die Modernisierung verschwunden ist". Vor allem in den Grenzgebieten zu Tibet haben sich noch viele alte Traditionen gehalten - Traditionen, die älter sind als der Buddhismus.
Geza Bethlenfalvy, Professor für Tibetologie in Budapest, ist einer der wenigen Kenner der nicht-buddhistischen Traditionen Tibets. Er erzählt beispielsweise, dass bis heute die alten Naturgötter eine wichtige Rolle in der tibetischen Kultur spielen. In Ladakh etwa, das im heutigen indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir liegt, glauben die Menschen an die so genannten Cem - an Geister, die in den Bergen wohnen und nachts durch die Dörfer sausen. Bethlenfalvy dazu:
"Man muss ein Mandala mit Opfergaben für vier Götter in den vier Himmelsrichtungen aufstellen, vor allem Essen, aber auch Alkohol, zum Beispiel das tibetische Gerstenbier Tschang, um den Geist einzuladen, damit der sich am Essen gütlich tut und die Kranken in Ruhe lässt", erklärt Bethlenfalvy.
Die Bön-Religion
Aber nicht nur Ladakh, sondern auch die Mongolei gehört zum tibetischen Kulturraum. Wer sich hier niederlässt, muss sich offenbar mit den Berggeistern gut stellen. Für einen modernen westlichen Menschen ist das vielleicht ein bisschen schwierig nachzuvollziehen, dass zum Beispiel der Ackerboden ein lebendiges Wesen ist und dieses Wesen durch Opfer wohlwollend gestimmt werden muss.
Alle diese Vorstellungen gehören zu der vorbuddhistischen Naturreligion, die als Bön-Religion bekannt ist. In Tibet gibt es nämlich neben den buddhistischen auch Bön-Klöster. Erst in den letzten Jahren ist die Bön-Religion auch im Westen bekannt geworden.
Berg- und Wassergeister werden bis heute auch von buddhistischen Mönchen angerufen, auch wenn sie im Exil leben. Zum Beispiel Mönche aus dem Kloster Drepung - einem der wichtigsten tibetischen Klöster, das in Südindien neu gegründet wurde.
Mythen und Legenden der Tibeter
Über die frühen Zeiten der Geschichte Tibets ist nur wenig bekannt: "Man weiß, dass die Menschen an Naturgeister und Dämonen glaubten und dass König Söngtsen Gampo im 7. Jahrhundert den Buddhismus als Staatsreligion einführte", sagt Hanspeter Matthes. Politisch motiviert waren damals auch die Ehen des Königs mit zwei chinesischen Prinzessinnen, wie in dem Buch von Andreas Gruschke "Mythen und Legenden der Tibeter" zu lesen ist:
Als der Brautzug der schönen chinesischen Prinzessin Wengcheng nach dem fernen Tibet aufbrach, zählte die staunende Volksmenge fünfhundert Pferdelasten mit den fünf Getreidearten, eintausend Pferdelasten mit Pflügen und einige hundert Handwerksmeister - ein prächtiges Gefolge für eine Kaisertochter.
Seither floriert in Tibet die Landwirtschaft und das Handwerk, wird erzählt. Die zweite Prinzessin, die König Söngtsen Gampo ehelichte, stammte aus Nepal und soll eine kostbare Buddha-Statue mitgebracht haben, für die ein eigener Tempel gebaut wurde - der Jokhang.
Das wichtigste Heiligtum der Tibeter
Der Jokhang liegt im Zentrum der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Er ist bis heute das wichtigste Heiligtum der Tibeter: "Damals hieß es, das Land Tibet sei eine Dämonin, die man unterwerfen müsse. Der Jokhang und zwölf weitere Tempel sollten der Beherrschung dieser Dämonin dienen", berichtet Per Sörensen, Tibetologe an der Universität Leipzig.
Daher wurde zu jener Zeit auf Anraten der chinesischen Prinzessin Wengcheng dieser Jokhang in der Mitte eines trockengelegten Flussbettes errichtet. Denn dort - so hatte sie mit Hilfe geomantischer Analysen herausgefunden - sei das Tor zur Unterwelt, und daher könne man hier die Geister bannen. Dass dies nicht gelang, beweisen die zahlreichen Überschwemmungen im Land. Die Tibeter schrieben jene Naturkatastrophen allerdings nicht dem Monsun, sondern den örtlichen Wassergeistern - den Nagas - zu, die sich ihrer Meinung nach durch das Treiben der Menschen gestört fühlten.
Avalokithesvara
So nennen die Tibeter den Bodhisattva des Mitgefühls. Er ist nicht nur eine transzendente Gottheit, sondern erscheint auch in verschiedener Form auf der Erde unter den Menschen.
Als Verkörperung des Bodhisattvas des Mitgefühls gelten die Dalai Lamas. Der jüngste von ihnen - Tenzin Gyatso - der 14. Dalai Lama - unterscheidet sich jedoch in vielem von seinen Vorgängern. Seit mehr als 50 Jahren lebt er im Exil und bemüht sich auf gewaltlosem Weg um die Befreiung Tibets. Ob es nach ihm noch einmal einen Dalai Lama geben wird, lässt er offen: "Sicher ist eines: Wenn es eine Reinkarnation gibt, wird diese sicher nicht in China auftreten. Vielleicht wird es eine Frau sein - vielleicht auch nicht. Bisher hat sich seine Heiligkeit da nicht festgelegt", sagt der EU-Beauftragte des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsens.
Erziehung so tibetisch wie möglich
Die Situation im Exil erfordere auch einen neuen Blick auf die tibetische Kultur, meint Kelsang Gyaltsen weiter: "Viele der jungen Tibeter von heute sind Exil-Tibeter. Manche sind schon im Westen geboren, aber pro Jahr kommen hunderte Kinder als Flüchtlinge aus Tibet über die hohen Pässe ins indische Dharamsala - zum Sitz der tibetischen Exilregierung. Ihre Eltern haben sie aus dem chinesisch besetzten Tibet nach Indien geschickt, weil sie wollen, dass sie als Tibeter aufwachsen".
Vor allem durch die Hilfe westlicher Sponsoren gibt es dort mehrere Schulen und Heime für diese Kinder. Verantwortlich dafür ist die Schwester des Dalai Laima, Jetsun Pema: "Wir versuchen, unsere Kinder und jungen Erwachsenen so zu erziehen, dass sie so tibetisch bleiben wie möglich und den Weg der tibetischen Kultur einschlagen, nämlich ein sinnvolles Leben zu führen. Für einen Buddhisten ist die Geburt als menschliches Wesen das Kostbarste. Denn wir glauben an Wiedergeburt: Man kann auch als Tier wiedergeboren werden, als Insekt etwa. Als Mensch geboren zu werden, ist nicht so einfach. Wenn man aber einmal das Leben als Mensch erlangt hat, muss man es gut und sinnvoll nützen".
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Hör-Tipp
Tao, Montag, 5. Juni 2006, 19:05 Uhr
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Link
Wikipedia - Buddhismus in Tibet
Wikipedia - Tibet