Was der eine wegwirft, begehrt der andere
Der Sammler
Die studierte Juristin Evelyn Grill gilt als Meisterin des untergründigen Witzes, ihre Bücher sind Kleinodien des bösen Rundumschlags gegen alles, was "bürgerliche Wohlordnung" zu nennen wäre. Das offeriert sie dem Leser mit intelligentem Humor.
8. April 2017, 21:58
Kammerspiele mit skurrilem Einschlag - sie sind das literarische Grundrezept Evelyn Grills: alltägliche, banale Konstellationen, in die sich unversehens, dafür umso massiver, das Verdrehte und Verrückte einschleicht.
Das Personal ihres neuen Romans gruppiert sich um den "Stammtisch" eines Philosophieprofessors. Dort finden sich allwöchentlich neben seiner Dauerfreundin, einer mäßig erfolgreichen Schriftstellerin, weiters ein: ein Anglistik-Dozent auf der Suche nach einem Lehrstuhl; eine studierte Sozialpädagogin, Bewährungshelferin mit großem Herz für alles Menschliche, vor allem männliche; eine Psychotherapeutin, die sich nebenher als Künstlerin betätigt; als Aufputz eine junge, blonde Studentin, der geheime Schwarm der anwesenden Herren; und weitere, wechselnde Gäste, alle aus der arrivierten Intellektuellen- und Kunstszene.
Feinsäuberlich gehortet
Der "Störfaktor" in Grills neuem Roman heißt Alfred Irgang. Meist trifft er mit Verspätung am "Stammtisch" ein. Der Inhalt der Plastiksäcke, die er mühsam herbei schleppt, stammt aus den Mülltonnen der Stadt. Irgang ist ein Messie, ist der Titel gebende "Sammler", einer jener Menschen, die nichts wegwerfen können. Vom "Vermüllungssyndrom" sprechen Psychotherapeuten.
Irgang zwängte sich durch den schmalen Gang zwischen seinen Schachtelwänden in die Küche. Dort hatte er auf den Arbeitsplatten leere Yoghurt-Becher, Margarinebehälter und dergleichen mehr bis an die Decke ineinander gestapelt. Alle säuberlich nummeriert und mit Datum versehen. Er nahm einen abgepackten Milchreis aus dem Kühlschrank, setzte sich auf einen winzigen Hocker und löffelte ihn aus.
Eine Steigerung ist immer möglich
Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung Europas, so die aktuelle psychopathologische Erkenntnislage, leiden, mehr oder weniger ausgeprägt, am Sammelzwang. Bei Evelyn Grills literarischer Kunstfigur Alfred Irgang erreicht die Sammelwut ihr Maximum: Irgang wirft nicht nur nichts weg, er durchwühlt auch noch den Abfall anderer Leute.
Irgang steckte seine beiden Arme in den geöffneten Schlund des Müllschluckers und begann zu stöbern. Was er für interessant hielt, stopfte er in seine geräumigen Plastiktaschen, die bald prall gefüllt waren. Dann machte er sich mit seiner Beute auf den Heimweg, nicht ohne das Gefühl, Wertvolles unwiederbringlich zurück zu lassen.
Helfende Hände
Evelyn Grill hat sich für ihren grotesken Roman in der einschlägigen psychologischen Literatur kundig gemacht. Alfred Irgang kann nicht nur keine Gäste mehr in seine Wohnung einladen, auch dem Heizkostenableser ist der Weg versperrt. Nachbarn beschweren sich über die Kakerlaken-Plage im ganzen Haus, die offenbar in seinem Domizil ihren Ursprung hat. Aber auch die gesundheitsamtlichen Kontrollore und der Kammerjäger stehen vor verschlossenen Türen.
Die Freunde des Sammlers vom "Stammtisch" des Professors wollen dem Vermüller ja helfen. Im Weg stehen ihnen freilich die eigenen Wünsche und Interessen: Die Malerin möchte das üppig-müllige Wohnungsinventar in eine künstlerische Installation verwandeln, die Schriftstellerin einen Roman über den Vermüller schreiben. Dem Professor, dem ältesten Jugendfreund des Messies, geht's vor allem um einige wertvolle Gemälde aus dem Erbe des Freundes. Und so nimmt die Tragödie ihren Lauf.
Heitere Skurrilitäten-Schau
Evelyn Grill hat einen intelligenten Roman geschrieben, der in einer grotesk-pathologischen Welt spielt. Geschickt verteilt die Autorin ihre ironischen, oft bösen Seitenhiebe - auch gegen die Intellektuellen und Kunstszene-Menschen vom "Stammtisch" des Professors.
Wie Grill zuletzt zu einem schlüssigen Finale ihrer heiteren Skurrilitäten-Schau findet, sei hier nicht verraten. Allen Liebhabern des untergründigen Witzes und grotesken Humors ist das Buch jedenfalls sehr zu empfehlen.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 2. Juni 2006, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 4. Juni 2006, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Evelyn Grill, "Der Sammler", Residenz Verlag, ISBN 3701714428