Wie man durch Literatur zum Sprechen kommt

Erzählen statt schweigen

Bis zum 6. Lebensjahr gehörte er zu den Nicht-Sprechern. Schreiben und Lesen hatte er zu diesem Zeitpunkt längst gelernt - durch beschriebene Zettel seiner aphatischen Mutter. Dieses Verhältnis zur Schrift hat Hanns-Josef Ortheil bis heute nicht verloren.

Der Autodidakt Hanns-Josef Ortheil

Er wollte Pianist werden, wurde aber Schriftsteller. Schon mit acht Jahren werden seine ersten Texte veröffentlicht. Der Grund, warum der heutige Professor für kreatives Schreiben und Kulturjournalimsus so zeitig zu schreiben begonnen hat, liegt in seiner Familie, die schwere Schicksalsschläge hinnehmen musste.

Vom Verstummen der Mutter geprägt

"Ich war das fünfte Kind meiner Eltern. Meine Muter hat außer mir noch vier Söhne geboren, doch als ich 1951 in Köln zur Welt kam, war keiner der vier noch am Leben. Drei waren Stunden, Tage oder Wochen nach der Geburt gestorben; der erste während eines Bombenangriffs, der zweite am 6. April 1945, als er dreijährig auf dem Schoss der Mutter durch einen Granatsplitter in den Hinterkopf getroffen wurde. Er war sofort tot. Meine Mutter aber überlebte - verstört, ein in sich erstarrtes, zu Tode erschrockenes Bündel, das aufhörte, weiter an das Leben zu glauben".

Auch zwei weitere Brüder von Ortheil sterben bald nach der Geburt. Hanns-Josef ist der einzige, der überlebt. Seine Kindheit ist von der Stille und vom Verstummen der Mutter geprägt. Die erste Sprache allerdings, die er verwendet, ist Klavier spielen:

"Das Kind spricht nur - ausschließlich mit dem Klavier, ansonsten stellt es sich stumm, reagiert nicht weiter auf Fragen und Anreden. Wenn Fremde den Raum betreten, flieht es sofort unter den Tisch, zieht die Tischdecke herunter und stellt sich tot" - liest man dazu in seinen biografischen Notizen.

Die Flucht von zu Hause

Als er an das Gymnasium in Mainz kommt, erlebt Hanns-Josef Ortheil eine erste Zeit der "Befreiung". Er betreibt mit seinen Schulfreunden Sport, hält aber an der Gewohnheit aus seiner Kindheit, immerfort zu schreiben, weiter fest und steckt seinen ganzen Fleiß ins Schreiben.

Als schließlich seine aphatische Mutter wieder zu sprechen beginnt, wird die Situation für den damals 17-Jährigen sehr schwierig, ja unerträglich. Er will sich loslösen: "In einer Nacht und Nebelaktion bin ich nach Rom abgehauen - in ein Kloster. Dort bin ich so lange geblieben, wie ich es für richtig empfand, obwohl Mutter mir die Polizei auf den Hals geschickt hat und drohte, sich umzubringen".

Schließlich kommt er wieder nach Hause, durfte aber vorerst nicht das Haus betreten. Sein Vater aber zeigt sich solidarisch und unterstützt ihn so lange, bis sich alles gelegt hat. Nach dem Abitur geht Ortheil einige Zeit nach Frankfurt, dann wieder nach Rom, wo er ein Pianistenstudium absolviert.

Karriere-Ende wegen Verletzung

Hanns-Josef Ortheil nimmt auch an zahlreichen Klavier-Meisterkursen teil. Schließlich debütiert er auch bei einem Konzert mit dem RSO Frankfurt unter der Leitung von Eliahu Inbal, als kurzfristig der Pianist erkrankt. Als das Klavierspiel immer professionellere Formen annimmt, kommt jäh und unerhofft das abrupte Ende seiner musikalischen Laufbahn. Wegen eines Einrisses einer Sehne im Arm muss er das Klavierspielen aufgeben. Die Enttäuschung ist für die Mutter mindestens so groß wie für den direkt betroffenen Sohn:

"Ich habe große Erschütterung empfunden. Ich habe nur gelitten, dass ich nicht mehr Klavier spielen konnte. Plötzlich hatte ich viel Zeit, denn der Beruf Pianist frisst einen auch zeitlich auf; ich musste pro Tag sechs Stunden lang üben". Und er nimmt sich die Zeit und widmet sich ganz dem Schreiben.

Seine Anfänge als Schriftsteller

Ortheil studiert Musikwissenschaft und Germanistik und wird Literaturhistoriker, Musikwissenschaftler, Erzähler, Romanautor und Essayist. Er schreibt wissenschaftliche und belletristische Werke. In seinen wissenschaftlichen Publikationen beschäftigt er sich mit dem Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Er schreibt über Jean Paul und Wolfgang Amadeus Mozart.

1979 kommt sein erster Roman mit dem Titel "Fermer" heraus, dessen Protagonist ein Aussteiger ist - in der Nachstudentenbewegung der 1960er Jahre. Der erste Satz im Buch lautet: "An einem Vorfrühlingsabend kehrte der junge Fermer nicht mehr in die Kaserne zurück ...".

"Ich glaube, das Leid oder die Dinge, die ich als Kind erlitten habe, sind Urelemente gewesen, aus denen mein Schreiben entstanden ist", erinnert er sich heute rückblickend.

Seine Lebensphilosophie

Zwei von Ortheils Lebensthemen sind die Liebe und Musik, die in seinen Büchern immer wieder leitmotivisch eine wichtige Rolle spielen. So auch in seiner Künstler-Triologie: "Die Nacht des Don Juan", "Faustinas Küsse" und "Im Licht der Lagune", die sich mit Literatur, Malerei und Musik auseinandersetzt.

Heuer ist auch seine klassische Studie über "Mozart im Innern seiner Sprache" nach 20 Jahren wieder aufgelegt worden. Ortheil hat auch ein neues Buch über Mozart mit dem Titel "das glück der musik. Vom vergnügen mozart zu hören" geschrieben. Dabei hat der jetzt an der Universität von Hildesheim kreatives Schreiben und Kulturjournalismus Lehrende jeden Tag für dieses Buch Musik von Mozart gehört und seine Empfindungen festgehalten.

Seine Liebe zur Kultur ist bis heute ungebrochen. Das Verhältnis zwischen Kultur und Politik irritiert ihn: "Kultur ist doch der Bereich, der am Dauerhaftesten bleibt. Kultur heißt doch Bearbeitung des Lebens überhaupt und etwas zu entwickeln, was über die eigene Zeit hinausgeht. Es kann doch nichts Schöneres geben, selbst Zeugnis abzugeben, mit dem andere weitermachen können".

Mehr zu Hanns-Josef Ortheil in oe1.ORF.at
Lesen für die Sinne
Die weißen Inseln der Zeit

Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 28. Mai 2006, 14:05 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Link
Wikipedia - Hanns-Josef Ortheil