Der Tag geht, die Nacht kommt
Wenn der Spritzwein endet
Besonders wenn wir mit einem Nachtsichtgerät herumlaufen, brauchen wir Dunkelheit, um besser zu sehen, weil das viele Tageslicht, das der Frühling bringt, uns verblendet, wenn wir nicht die Augen schließen, was ja nun auch nicht der Sinn der Sache ist.
8. April 2017, 21:58
Am Ende wird es außergewöhnlich kalt sein auf der Erde, allenfalls werden ein paar sehr dünne Eiswürmer auf bessere Zeiten warten, so genannte Geduldsfäden. Ich und Sie werden dann schon gelebt haben und mausetot sein. Der Mäusetod wird zur Sprichwörtlichkeit zerfallen sein, die Sprichwörtlichkeit wird der reinen Metapher gewichen sein, und die wird niemanden mehr kümmern.
Schön.
Wir sitzen bei Tageslicht am Kreisverkehr und trinken Spritzwein, weil da ein Gastgarten ist, wo wir sind. Wir bestätigen einander, dass Sex etwas Wichtiges ist. Wir beteuern, dass Sex ohne Küssen nicht geht. "Das geht gar nicht", sagt eines von uns. Eines möchte das Thema wechseln, Sex ist aber stärker. Und lustiger. Da wir kein Liebespaar sind, müssen wir einander nicht andauernd in die Augen schauen. Stattdessen erzählen wir abwechselnd Geschichten von früher. Früher, als wir noch zu wissen glaubten, was Sex ist und was es sein muss, da war es etwas, über das wir heute zuweilen "das geht gar nicht" denken und auch sagen, nicht ohne anzufügen, dass es eine super Zeit war, entwicklungspsychologisch wichtig.
Im Frühling ist es unabdingbar, über Sex zu plaudern. Wir halten fest: "One-Night-Stand, nein, danke!" Würden wir nie machen, nicht tags, nicht nachts. Zumal wir doch hier sitzen und uns eigentlich ganz gut unterhalten. Sex ist wichtig, aber Spritzwein ist manchmal die bessere Wahl. Außerdem sind wir kein Liebespaar, müssten also nicht mit jedem neuen Glas anstoßen, tun es trotzdem, was den Kellner, den Kenner, schmunzeln macht und sichtlich denken, dass wir jemand anderes wären als zwei, die sich bei Spritzwein über Sex unterhalten, nämlich vielleicht zwei, die in Wahrheit besser Sex miteinander machen mögen und sich dann über Wein unterhalten sollten.
Auch Freund G., ein Guter, plädiert ein paar Tage später für eine kopernikanische Wende. In mir. Er hat es nicht so ausgedrückt. Er hat es so ausgedrückt: "Wenn es Bedürfnisse gibt, dann darf man ihnen auch nachgeben". Ich postuliere dann, dass der Genuss von Spritzwein in angenehmer Gesellschaft, indem er weniger antizipiert, denn vielmehr konserviert - dies nicht nur Ressourcen schonend, sondern in meiner gegenwärtigen Lage vor allem die höchste erträgliche Befriedigung implizierend -, und verspreche aber, dass ich bei Gelegenheit auf seine hehre Idee zurück kommen werde. Dann, wenn der Spritzwein endet.
Abend.
In meiner Lieblingswirtschaftszeitung stand letzthin einiges über das Ende. Das erinnerte mich an einen Artikel in einer Psychologie-Zeitschrift über das Trauern. Dieser vergegenwärtigte mir die Eindrücke vom Ableben meines Vaters, die ich zu erinnern imstand bin. Und so frage ich mich, ob es das Ende im Sinne eines abgeschlossenen Prozesses überhaupt gibt; ob ein Ende nicht vielmehr einfach die beste Gelegenheit für Transformationen ist. Zumindest würden mir die Leute in der Wirtschaftszeitung meiner Wahl darin Recht geben. Was vor dem Ende stattgefunden hat, kommt kurz vor Schluss zu uns, um sich darüber zu beschweren, dass jetzt gleich alles aus sein wird; darauf könnten wir antworten: "Du wirst gehen, etwas Anderes wird kommen, stell dich nicht so an!"
Nacht.