Potential ist reichlich vorhanden
Schweiz
Am 9. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Einen Monat lang wird "König Fußball" das dominierende Thema in den Medien und der Gesellschaft sein. Bis dahin stellt Ihnen oe1.ORF.at die 32 teilnehmenden Nationen vor.
8. April 2017, 21:58
Seit die Deutschen 1954 ausgerechnet in der Schweiz wieder Aufnahme in die zivilisierte Welt des Fußballs fanden und auch gleich noch das "Wunder von Bern" inszenierten, freuten sich die Eidgenossen über alle Niederlagen des großen Nachbarn. "Weltmeister ist, gottlob, Argentinien", lautete 1986 eine Schlageile der Zürcher Wochenzeitung Weltwoche.
Auf dem grünen Rasen selbst aber hatten die Schweizer trotz ihres sprichwörtlichen Abwehr-"Riegels" kaum je eine Chance. Zum bisher letzten Mal qualifizierten sie sich 1994 für eine Weltmeisterschaft. Dann begann die große Krise.
Das Verhalten des Landes im Zweiten Weltkrieg kam fünfzig Jahre nach dessen Ende auf den Tisch. Die Schweiz verlor ihre politische Unschuld. Die Swissair - als Symbol des Sonderwegs auch am Himmel - stürzte im Herbst 2001 ökonomisch ab.
Zugleich brannte im Tunnel des Gotthard, des mythischen Bergs, den die Eidgenossen im Falle eines deutschen Angriffs als letztes "Réduit", als Rückzugsgebiet, verteidigt hätten, das Fegefeuer und forderte ein Dutzend Tote. Die Epoche der Selbstzweifel dauerte ein Jahrzehnt. Sie brachte den Aufstieg Christoph Blochers und der Schweizerischen Volkspartei SVP, die jede Vergangenheitsbewältigung und jede Annäherung an Europa bekämpften.
Doch die Aufarbeitung der Vergangenheit hat die Schweiz verändert. Das Land, in dem beide internationale Fußballverbände, FIFA und UEFA, ihre Sitze haben, trat im Frühjahr 2002 den Vereinten Nationen bei. 2004, bei der Europameisterschaft in Portugal, waren die Kicker erstmals seit langem wieder an einem großen Tournier beteiligt.
Inzwischen spielen viele "Secundos" - Angehörige der zweiten Gastarbeiter-Generation, deren Eltern aus unterschiedlichsten Ländern in die Schweiz gekommen waren - in den besten europäischen Klubmannschaften; auch in der deutschen Bundesliga.
Wäre es nach den Vorstellungen von Blocher und der SVP gegangen, hätten sie nie einen Schweizer Pass bekommen. Am 16. November 2005, in der Fußball-Schlacht am Bosporus, demonstrierten die Schweizer der Welt auch gleich die noch begrenzte Europa-Tauglichkeit der Türken. Und sie schafften die Qualifikation für die WM. "Deutschland, wir kommen!", jubelte das ganze Land danach.
Vor wenigen Wochen erschien der 770 Seiten umfassende Roman "Melnitz" des schweizerisch-jüdischen Schriftstellers Charles Lewinsky. Er wurde als Erneuerung des eidgenössischen Erzählens gefeiert und mit einer Startauflage von hunderttausend Exemplaren auch nach Deutschland geschickt - das hatten selbst die Literaturheroen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zu ihren Lebzeiten nie erlebt.
Die jüdische Schweizersaga, so scheint es, hat das Land endgültig von seinem schlechten Gewissen befreit. Und der Goldsegen bei den Olympischen Winterspielen von Turin, als man im Eishockey auch erstmals die Kanadier besiegte, macht die Parole "Deutschland, wir kommen!" nun vollends zum friedlichen Schlachtruf einer geläuterten Nation.
Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.
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