Zwei Leben

8. April 2017, 21:58

Als ich siebzehn war, zog ich zu meinem Großonkel und zu meiner Großtante nach England. Er war Inder, sie war Deutsche. Beide waren sechzig Jahre alt. Damals kannte ich sie kaum.

Auf 500 Seiten versucht der 1952 in Kalkutta geborene Vikram Seth, sich und dem Leser diese beiden Menschen näher zu bringen. Anhand von Briefen, Interviews und Fotos dokumentiert er die verschlungenen Wege ihrer Beziehung.

Ein ungewöhnliches Paar

Der einarmige Zahnarzt Shanti und die elegante Jüdin Henny sind ein ungewöhnliches Paar. Als Vikram Seth 1969 zum Studieren nach England kommt, wohnt er kurz bei ihnen und besucht sie dann fünf Jahre lang fast jede Woche in London.

Onkel Shanti und Tante Henny waren mein Anker, meine Familie so weit weg von zu Hause und verhinderten, dass ich vollständig in den schwarzen Strudeln meiner verspäteten Pubertät versank.

Später geht Vikram Seth in die USA und schreibt anschließend seinen 2000-Seiten Roman "Eine gute Partie". Mit Onkel Shanti und Tante Henny bleibt er stets in Verbindung.

Rekonstruktion eines Lebens

Als Vikram Seth im April 1989 erfährt, dass Henny im Sterben liegt, nimmt er das nächste Flugzeug nach London.

"Vicky, es war so lieb von dir, dass du gekommen bist. Ich wusste gar nicht, dass du so lieb bist. Ich liebe dich, Vicky." Nie zuvor hatte Tante Henny so zu mir gesprochen. Ich küsste ihr graues Haar, das so dünn und spröde war.

Tante Henny stirbt wenige Tage später, ohne je mit "Vicky", wie sie Vikram Seth nennt, über ihre Gefühle oder das Schicksal ihrer Angehörigen gesprochen zu haben. Erst fünf Jahre später macht sich Vikram Seth daran, ihr Leben und ihre Beziehung zu Onkel Shanti zu rekonstruieren.

Zur Untermiete in Berlin

Shanti hat Henny 1933 in Berlin kennen gelernt, wo er Zahnmedizin studierte und ein Zimmer bei Hennys Mutter gemietet hatte.

Shanti erfuhr über ein Jahr später, dass Frau Caros jüngste Tochter Henny, als sie sie anrief und ihr von dem neuen Mieter erzählte, sagte: "Nimm den Schwarzen nicht." Das war der Beginn einer Beziehung, die fünfeinhalb Jahrzehnte dauern sollte.

Die Annährung der beiden erstreckt sich über viele Jahre. Henny stammt aus einer jüdischen Familie. Als Shanti sie kennen lernt, ist sie mit Hans, einem verwöhnten Dandy, befreundet, der sie später verlässt, um Schwierigkeiten mit dem NS-Regime zu vermeiden, und eine andere heiratet.

Gegen jede Konvention

Henny gelingt es, 1939 aus Deutschland nach England zu emigrieren. Ihre Mutter und ihre Schwester werden im KZ ermordet. In England setzt sie die Beziehung zu Shanti fort, der schon drei Jahre zuvor nach Großbritannien gezogen war, da ihm auf Grund der politischen Situation eine Karriere in Deutschland versagt blieb. Er meldet sich freiwillig zur britischen Armee und verliert im Krieg seinen rechten Arm. Mit eiserner Disziplin gelingt es ihm, seine linke Hand so zu trainieren, dass er wieder als Zahnarzt arbeiten kann. Onkel Shanti und Tante Henny heiraten 1951 und führen ein arbeitsames, bürgerliches Leben in London.

Manchmal ist Vikram Seth ein zu geschwätziger Autor und überfrachtet seine Rekonstruktion dieser faszinierenden Beziehung, die von den zentralen politischen Ereignissen des Jahrhunderts immer wieder in neue Bahnen gedrückt wird, mit persönlichen Reflexionen oder Befindlichkeiten. Aber der Zauber dieser ungewöhnlichen, berührenden Liebesgeschichte kann sich dennoch entfalten.