Vom Versuch, die Bruchstücke zu hüten

Die Philosophin des Bösen

Dubravka Ugresic ist die bekannteste kroatische Schriftstellerin außerhalb Kroatiens. Seit sie ihre Heimat verlassen musste, beschreibt sie in ihren Exilanten-Romanen die Traumata, die Menschen, die Krieg erlebt haben, verfolgen.

Die kleinen Völker am Balkan haben offenbar schon vor langem ihre Kultur der Lüge geschaffen und eingemeindet, und sie pflegen sie weiter. Die Lüge - wie übrigens auch der Tod - ist zum natürlichen Zustand, zur Verhaltensnorm geworden, Lügner sind normale Bürger. Und wenn man dem serbischen Schriftsteller und erfolglosen Präsidenten Pseudo-Jugoslawiens Dobrica Cosic in etwas zustimmen muss, dann ist es seine Formulierung: Die Lüge ist eine Form unseres Patriotismus und eine Bestätigung unserer angeborenen Intelligenz.

1994 erschien Dubravka Ugresics Essay-Band "Die Kultur der Lüge", in dem sie das "geistliche Klima" der neuen unabhängigen Staaten des früheren Jugoslawiens darstellte. Diese kühne Analyse einer Gesellschaft, die sich in der Mitte des Krieges (der Krieg oder die Kriege im ehemaligen Jugoslawien dauerten von 1991 bis 1995, bzw. bis 1999, wenn man die NATO-Angriffe auf Serbien wegen der Kosovofrage dazurechnet) befand, brachte Dubravka Ugresic schnell viele Feinde. Nach dem Motto, im Krieg darf man nicht die unangenehmen Vermutungen und Wahrheiten aufrühren, fand sich mancher berufen, die Autorin zu diffamieren.

Das ging so weit, dass einer der engsten Berater des damaligen kroatischem Präsidenten Franjo Tudjman Dubravka Ugresic und vier weitere gegen den Krieg engagierte Frauen "Hexen" nannte. Diese Bezeichnung hatte eine Reihe von anonymen Briefen und offene Angriffen an die adressierten "Hexen" zur Folge. Dubravka Ugresic wich dieser nicht immer ungefährlichen Situation mit einem "freiwilligen" Exil aus.

Erfolgreiches Debüt

Dubravka Ugresic wurde 1949 in Kutina, etwa 80 Kilomater von Zagreb entfernt, geboren. Bis 1994 lebte sie als Schriftstellerin und Dozentin für slawistische Studien in Zagreb.

Ihr erster Roman "Stefica Cvek u raljama zivota" - auf Deutsch: "Steffi Speck in den Fängen des Lebens" - wurde gleich ein Erfolg, sowohl bei den Lesern als auch bei den Kritikern und wurde weiters als Film und in mehreren Bühnenadaptationen äußerst populär. Weitere Romane folgten und es schien, als würde sich ihre Karriere weiter gut entwickeln. Mit dem Krieg änderte sich aber auch Ugresics literarische Arbeit: Eine auf den ersten Blick nicht politische Autorin schrieb auf einmal stark politisch engagierte Werke.

Widerstand

Man weiß fast immer, wer die "Opfer" und wer die "Täter" eines Krieges sind. Man kann auch, mehr oder weniger präzise, die Zahl der Getöteten, der Flüchtlinge oder derjenigen feststellen, die in Lagern inhaftiert wurden. In jedem Krieg gibt es aber auch eine Gruppe von Menschen, die kaum einzuordnen ist, weder ideologisch noch nach ihrer Zahl.

Dubravka Ugresic gehörte einer Gruppe an, die, wenn sie sich "klüger" benommen hätte, ihre Ruhe gehabt hätte. Sie jedoch wollte das, was sie gesehen hatte und was sie als Unrecht empfand, nicht verschweigen. Der Gang ins Exil war somit für Ugresic unvermeidlich.

"Freie" Exilanten

Dubravka Ugresic beschreibt in ihren zuletzt erschienenen Büchern "Lesen verboten" und "Das Ministerium der Schmerzen" die Lage der unzähligen Flüchtlinge und "freien Exilanten", wie sie auch selber einer ist und die über die ganze Welt verstreut sind. Offiziell lebt sie in Amsterdam, aber sie ist immer unterwegs. Sie hält Lesungen, Seminare und Lehrgänge auf Universitäten in der ganzen Welt und schreibt über das Erfahrene.

Es kann sein, dass sie auf ihre literarische Weise eine Welt - die Welt ihrer Kindheit - vor dem Vergessen zu retten versucht. Es ist ein Versuch, die Geschehnisse zu verstehen und gleichzeitig zu erklären. Der amerikanische Schriftsteller Charles Simic meint treffend: "Dubravka Ugresic ist die Philosophin des Bösen und des Exils."

Hör-Tipp
Tonspuren, Freitag, 12. Mai 2006, 22:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Dubravka Ugresic, "Das Ministerium der Schmerzen", aus dem Kroatischen übersetzt von Barbara Antkowiak und Mirjana und Klaus Wittmann, Berlin Verlag 2005, ISBN 3827005620

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Dubravka Ugresic, "My American Fictionary", aus dem Kroatischen übersetzt von Barbara Antkowiak, Suhrkamp Verlag 1994, ISBN 3518118951

Dubravka Ugresic, "Die Kultur der Lüge", aus dem Kroatischen übersetzt von Barbara Antkowiak, Suhrkamp Verlag 1995, ISBN 351811963X

Dubravka Ugresic, "Das Museum der bedingungslosen Kapitulation", aus dem Kroatischen übersetzt von Barbara Antkowiak, Suhrkamp Verlag 1998, ISBN 351839570X

Dubravka Ugresic, "Lesen verboten", aus dem Kroatischen übersetzt von Barbara Antkowiak, Suhrkamp Verlag 2002, ISBN 3518413155

Link
Der Falter - Rezensionen zu Ugresic-Büchern