Ein Überblick - geschichtlich aufbereitet

Religion in Lateinamerika

Lateinamerika ist zwar durchwegs katholisch geprägt, seit einigen Jahren steigt aber die Zahl der Protestanten und Freikirchen, die heute insgesamt etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auch indigene religiöse Traditionen nehmen mehr an Bedeutung zu.

Carlos Aguilar über die heutige Situation in Lateinamerika

Die religiöse Situation in Lateinamerika ist vielschichtig. Zwar mehrheitlich noch immer katholisch geprägt, gibt es seit einiger Zeit einen massiven Zuwachs vor allem US-amerikanischer evangelikaler Kirchen, die sich sehr effizient der elektronischen Medien bedienen. Neben dieser Medien-Religion bekommen die indigenen religiösen Traditionen zunehmend mehr Bedeutung.

Sie nannten sich Conquistadores

"Die offenen Adern Lateinamerikas" - so der Titel des Buches von Eduardo Galeano, in dem er einen geschichtlichen Überblick über die Religion dieses Erdteils gibt und auch auf die Eroberung durch die spanischen und portugiesischen Abenteurer eingeht: "Sie nannten sich Conqustadores - Eroberer und Plünderer", ist da zu lesen:

Papst Alexander VI. sah die Eroberung als eine Erweiterung des Herrschaftsgebietes der Kirche. Missionare wurden ausgesandt, um die Heidenvölker zu taufen. Diese jedoch wurden von Spaniern und Portugiesen als Sklaven gehalten. Ganze Völker starben durch die schwere Arbeit in den Gold- und Silberminen oder begingen massenweise Selbstmord, um den weißen Unterdrückern zu entgehen.

Und Galeano weiter in seinem Buch:

Azteken, Inkas und Mayas machten insgesamt eine Bevölkerung von 70 bis 90 Millionen aus, als die ausländischen Konquistadoren am Horizont auftauchten. Eineinhalb Jahrhunderte später waren sie auf nur dreieinhalb Millionen zusammengeschmolzen".

Die afrikanischen Sklaven

Anfang des 16. Jahrhunderts erteilte der Habsburger Kaiser Karl V. die Lizenz, auch Afrikaner als Sklaven in die neuen Kolonien zu bringen. Man schätzt, dass bis zum 19. Jahrhundert sechs bis neun Millionen Menschen aus Afrika nach Lateinamerika verschleppt wurden - unter Mithilfe englischer Zwischenhändler.

Auch die Afrikaner wurden zwangsweise getauft. Doch sie behielten - so wie die getauften Indigenas - ihre alte Religion unter dem Gewand des Katholizismus bei. Candomblé Macumba und andere afro-amerikanische Religionen sind bis heute in Lateinamerika sehr verbreitet.

Vielschichtige religiöse Erfahrungen

Im 19. Jahrhundert brachten europäische Einwanderer - darunter sehr viele Deutsche - die protestantischen Kirchen auf den Kontinent; Einwanderer aus dem Mittleren Osten und Südostasien schließlich brachten den Islam mit, der heute vor allem im karibischen Raum verbreitet ist. Durch asiatische Einwanderer kam auch der Buddhismus in die Region, und seit einigen Jahrzehnten finden die christlichen Pfingstkirchen immer mehr Anhänger.

Auch wenn heute in Lateinamerika noch immer Katholiken den Großteil der Bevölkerung ausmachten, gebe es ein sehr breites Spektrum religiöser Erfahrungen, Glaubensformen und Kirchen", sagt der anlässlich des Lateinamerika-Gipfels in Wien weilende Wirtschaftswissenschaftler Carlos Aguilar aus Costa Rica: "Es ist auch wichtig, zwischen zwei Bewegungen oder Tendenzen in der katholischen Kirche zu unterscheiden: der offizielle Bereich ist groß und wichtig und sehr nahe dem Machtsektoren, der andere Bereich unterstützt und begleitet die Bemühungen des Volkes. Und dann gibt es einen ökumenischen Prozess, in dem Katholiken, verschiedene protestantische und evangelikale Gruppen und anglikanische Gemeinden zusammenarbeiten - im politischen Kampf um Gerechtigkeit".

Gegen Neoliberalismus und Militarisierung

Die Allianza Social Continental - ein Zusammenschluss aller sozialen Bewegungen des amerikanischen Kontinents, den Aguilar vertritt, richtet sich gegen den Neoliberalismus der Wirtschaft und gegen Militarisierung des Kontinents. Es sind die alten Themen, doch mit neuen Spielern: An die Stelle der Spanier und Portugiesen sind die USA, aber auch die EU getreten.

"Europäisches Kapital durchdringt heute Lateinamerika", meint Carlos Aguilar. Das betreffe vor allem die Bereiche des Bankwesens, aber auch der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft sowie der Landwirtschaft. Vor allem in Sachen Wasser und Strom beeinträchtige die Einmischung von europäischem Kapital das Alltagsleben der Menschen in den Städten und Dörfer, betont er. Es sei die Wiederkehr des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Das Muster - so Aguilar - sei immer dasselbe: "Die Minderheit der Besitzenden verdient daran, die Mehrheit der Arbeitenden kann mit dem Lohn knapp überleben, und die Produkte ihrer Arbeit kommen den Menschen in den Industriestatten zugute".

Der Ursprung der Befreiungstheologie

Der Reichtum Europas und die Armut Lateinamerikas stehen in einem direkten Verhältnis zueinander. Hier ist der Ursprung der Befreiungstheologie zu suchen. Das war in den 1960er Jahren, während der Zeit der lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Das erste Mal ist die Option für die Armen 1968 auf der Synode der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellin formuliert worden. Sehr rasch wurde der Verdacht laut, hier handle es sich um Marxismus.

1979 - ein Jahrzehnt später bei der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Puebla - stand im Schlussdokument:

Wir bestätigen die Notwendigkeit der Umkehr der gesamten Kirche im Sinne einer vorrangigen Option für die Armen mit Blickrichtung auf deren umfassende Befreiung.

Viele Priester und Bischöfe nahmen die Option für die Armen auf. Und viele starben dafür: Erzbischof Romero z. B., oder sechs Jesuiten, die an der Universität von San Salvador unterrichteten und viele andere. Das letzte prominente Opfer war 2005 die amerikanische Ordensfrau Dorothy Stang, eine Mitarbeiterin von Dom Erwin Kräutler. Sie wurde wegen ihres Engagements für die Indios und Landlosen von Pistoleros im Auftrag eines Großgrundbesitzers im Amazonasgebiet ermordet.

Das Erwachen der Indigenas

Neben der katholischen Kirche, die in Lateinamerika noch immer mehrheitlich die "Option der Armen" vertritt, richten sich auch die so genannten "Sectas" oder "Evangelicos" und die Pfingstkirchen, die heute in Lateinamerika relativ großen Zulauf haben, an die Ausgegrenzten, an die Armen, an die Schwarzen, an die Indigenas. Dort, wo die katholische Kirche oder die Regierung den Armen keine Angebote macht, schließen sich diese Menschen den Evangelikalen an.

Deutliche Zeichen für Veränderungen zugunsten der Armen setzt auch der neue bolivianische Präsident Evo Morales - der erste indigene Präsident Lateinamerikas. Er war ein Signal für das neue Erwachen der indigenen Bevölkerung. Auch der Argentinier Juan Carlos Figueredo, der seit vielen Jahren für eine der wichtigsten sozialen Organisationen seines Landes, der INCUPO, dem Institut für Volkskultur, arbeitet, setzt sich für die Indigenas ein.

Demokratie nur Verkleidung

Unterstützung bekommen Organisationen wie die INCUPO oder andere lateinamerikanische Basisorganisationen sehr oft von der katholischen Kirche - von vielen Bischöfen, die sich wie etwa der Österreicher Dom Erwin Kräutler seit Jahren mit großem Mut für die Rechte der Indigenas und der landlosen Kleinbauern einsetzt. Juan Carlos Figueredo betont, es gehe um die Rechte der Besiegten und Unterlegenen, um Gerechtigkeit für die Ausgegrenzten, um Veränderung im Sinne des Evangeliums. Er meint, Legislative, Judikative, Exekutive und als vierte Macht die Medien wollen, dass sich die jetzige Situation nicht verändert. Das nütze den Unternehmen, aber es schade dem Volk von Lateinamerika:

"Die Demokratie ist nur eine Verkleidung, ein Mantel, denn es geht heute nicht um die Interessen des Volkes, sondern um die Interessen einer Minderheit. Ich würde sogar sagen, dass ein Missbrauch des Begriffs Demokratie vorherrscht. Auch die politischen Parteien spielen da mit. Heute übernehmen die sozialen Bewegungen die Rolle der Opposition. Sie sind die einzigen, die Widerstand leisten".

Hör-Tipp
Logos, Samstag, 13. Mai 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Links
Wikipedia - Lateinamerika