Neues Album von Scott Walker

Der Fürst der Finsternis

Willkommen in der Kathedrale der finstersten Alpträume. Die Schwarze Messe wird vom Kardinal des Grauens höchstpersönlich zelebriert: Scott Walker. "The Drift" heißt das neue Album des früheren Walker Brother. Alles Todeswalzer!

Elf Jahre Auszeit hat sich der Eremit im Hermelinmantel gegönnt - man ist dies mittlerweile gewohnt, denn in den letzten 25 Jahren gab es nur drei Scott-Walker-Platten: 1984 "Climate of Hunter", 1995 "Tilt" und 2006 "The Drift" - und bei jeder darauf folgenden wurde die Schraube des Wahnsinns noch ein wenig stärker angezogen.

Wörter hin- und herschieben

"Ich sehe die Worte wie Soldaten auf einem Schlachtfeld - das ist mein Ding", so Scott Walker. "So kann ich sie hin- und herschieben, sie haben einen bestimmten Raum, in dem sie sich bewegen können. Wenn ich das eine Weile gemacht habe, bekomme ich Ideen, welche Art von Klang jede Verszeile braucht. Ich kann nicht genau sagen, woher die Musik kommt. Ich würde annehmen, aus der Stille - das meiste davon. Ich sitze einfach da und warte und warte."

Das Warten scheint tatsächlich die Hauptbeschäftigung von Scott Walker zu sein. Nicht, dass er seit der Veröffentlichung von "Tilt" im Jahr 1995 völlig untätig gewesen wäre: Er komponierte den Soundtrack zum Film "Pola X" von Leos Carax, er kuratierte eines der legendären Londoner Meltdown-Musikfestivals und er produzierte die CD "We love Life" der Britpopper Pulp. Doch die Organisation von Scott Walkers Nachtgedanken zu einem Album, das wie eine Klangruine von dekadenter Noblesse in der gegenwärtigen Musiklandschaft herumsteht, war offenbar eine Geduldsübung von Becketschen Dimensionen: En attendant l'inspiration.

Staubloch voller Anspielungen

Seine Kunst ist "The Waste Land" von T.S. Eliot, betrachtet durch die Kameralinsen von CNN oder Al-Jazeera; die Nachrichten werden von Samuel Beckett vorgelesen. "The Drift" ist ein Staubloch voller Anspielungen: Zitate aus klassischer Poesie und populären Songs, ironische Seitenhiebe, Dialoge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West, Zivilisation und Barbarei, Krankheit und Immunität, High- und Low-Kultur, Christentum und Islam, Gnosis und Kabbala.

Die Klangszenarien, die Scott Walker auf "The Drift" einrichtet, haben nur noch am Rande mit Popmusik zu tun: Es sind eher Mikrodramen von bis zu 13 Minuten Länge, in denen Soundblöcke gegeneinander gewuchtet werden und Klangschicht auf Klangschicht liegt, wie in einem mittelalterlichen Palimpsest. Es ist eine Musik der giftigen Parfüms, der kubistischen Formenzergliederung, der mikroskopischen Detailbesessenheit und der barocken Überfülle. Und manchmal wird eine brennende Intensität, irgendwo zwischen Holocaust und Schlachthaus, erreicht, die kaum noch zu ertragen ist.

Beginn in swingin' London

Ein kleiner Trip mit der Zeitmaschine, zurück ins Jahr 1964, zeigt am eindrucksvollsten, wie weit der Weg ist, den Scott Walker seit dem Beginn seiner Karriere zurückgelegt hat: Damals kam der Sänger, der als Scott Engel 1943 in Hamilton/Ohio geboren wurde, mit zwei anderen schlanken, groß gewachsenen Jungs nach England. Sie nannten sich, obwohl weder verwandt noch verschwägert, die Walker Brothers und mischten mit scharfen Anzügen und Sonnenbrillen das Swingin' London der Beat-Epoche auf.

Zwei Jahre später aber war die Magie des Augenblicks verpufft und der Club der traurigen jungen Männer Geschichte. Scott Walker startete eine Solokarriere, in der er Jacques Brels düstere Poesie für den angloamerikanischen Sprachraum entdeckte und Sartre und Camus in plüschiges Orchesterschmalz einwickelte.

Bei ständig sinkenden Plattenverkäufen wurde ihm irgendwann alles zu viel: "Er verließ den Palast des Pop-Wahnsinns durch den Seiteneingang", kommentiert der Musikjournalist Ian Penman, "und versuchte, den Schreien zu entkommen, die innerhalb und außerhalb seines Kopfes dröhnten."

Jenseits von Gut und Böse

Scott Walker war am Boden: ein gefallener Engel, dessen Seele in einen Abgrund geblickt hatte. Er zog sich zurück, wurde wunderlich. Und dann, 1984, hob sich völlig überraschend der bordeauxrote Samtvorhang und der Chanteur maudit war wieder da. "Climate of Hunter" hieß das Comeback-Album, in dem sich Scott Walker von allen Trends und Moden lossagte und aus Schall und Wahn betörende Klangruinen konstruierte.

Scott Walker hat sich jenseits von Gut und Böse angesiedelt, er unterläuft alle Produktionszyklen der Musikindustrie und wirbelt die Parameter der Popmusik durcheinander, bis vom Feuerzauber der Teenager-Ekstase nur noch ein Häufchen Asche übrig bleibt. Der Sänger entfaltet ein dialektisches Spiel zwischen den Polen eines akustischen Maximalismus und einer Stille, die auf die Unendlichkeit verweist. In seinen radikalsten Momenten legt Walker seine überbordenden Arrangements ab wie des Rätselkaisers gebrauchte Kleider und steht nackt da: eine Stimme und sonst gar nichts.

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 6. Mai 2006, 17:05 Uhr

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CD-Tipp
Scott Walker, "The Drift", 4AD Records, ASIN B000EZMPEU

Link
4AD - Scott Walker
Wikipedia - Scott Walker