Nessies Papier gewordene Verwandte
Drachen-Sachen
Sie heißen Norbert, Grendel oder Saphira. Sie sind sehr menschlich: eitel, geldgierig, lächerlich, weise oder melancholisch, auf jeden Fall aber vom Aussterben bedroht. Und dennoch vermehren sie sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit: Drachen.
8. April 2017, 21:58
Als Kind bin ich gar nie auf die Idee gekommen, dass diese Furcht erregenden, Feuer speienden, faszinierenden Fabelwesen, diese Drachen sympathisch sein könnten, aber das ist ja auch schon lange her. Mittlerweile kenne ich so viele freundliche Drachen, dass ich gar nicht weiß, wo denn die grauslichen geblieben sind.
Einer der ersten netten, der mir begegnet ist, war Fuchur, der Glücksdrache, Bewohner von Phantásien und Begleiter und Beschützer von Atréju. Fuchur und mit ihm Michael Ende haben mein Drachenbild für immer versaut. Ein Drache mit perlmuttfarbenen Schuppen und einer üppigen Mähne, der leicht ist wie eine Sommerwolke und ohne Flügel wie eine Wasserschlange durch die Lüfte schießt, der lachen kann und dessen Stimme klingt wie eine Glocke, das musste eine neue Spezies sein. Und diese neue Figur zeigte Wirkung. Nicht nur bei mir!
Einige Jahre später, nach einer langen drachenlosen Phase - ich hatte ja auch jede Menge Anderes zu tun, und Drachen standen nicht unbedingt auf meiner Prioritätenliste - flatterte eine ganze Drachenfamilie durch mein wohlgeordnetes Fantasy-Weltbild. Drachen, die eigentlich nichts anderes wollten, als ihre Ruhe haben und sich deshalb, um den Menschen nicht zu begegnen, in ein entlegenes Hochgebirgstal zurückgezogen hatten. Dummerweise gerät dieses Tal viele Jahrhunderte später als möglicher Quell erneuerbarer Energie ins Visier ihrer Erzfeinde: Es soll zu einem Stausee werden. Große Aufregung (Was können wir tun?), große Resignation (Ach... nichts...). Was soll ich Ihnen sagen: Natürlich ist es der jüngste Drache, der die alten Trantüten aufrüttelt und mit Hilfe eines Waisen namens Ben die ganze melancholische Familie durch viele Gefahren in die legendäre alte Heimat am Saum des Himmels bringt. Ja doch, "Drachenreiter" von Cornelia Funke ist als Kinderbuch erfunden worden, aber für Kinder zwischen 7 und 97.
Und dann ging es irgendwie Schlag auf Schlag. Grisu erschien, das herzige kleine Urmel purzelte aus einer Eisscholle. Und dann drängten die wilden Dinos aus dem Jurassic Park die netten Drachen an den Rand des Bewusstseins. Plötzlich griff das Dino-Fieber um sich. Ein befreundeter Jurist, hohes Tier in Berlin, ließ im Beisein eines Journalisten die Bemerkung fallen, dass die aufflammende Dino-Faszination ganz leicht zu erklären wäre. Die Dinosaurier sind unsere verlorenen großen Brüder, sagte er und wurde von diversen Blöd-Zeitungen zum Dino-Verhaltensforscher erklärt. In der Folge wurde sein Gedanke von Experten ausgebaut und untermauert. Plastik-Dinos bevölkerten unzählige Kinderzimmer, und ungewöhnliche Haustiere waren auf einmal "in". Eine meiner Bekannten schenkte ihrem Sohn ein Chamäleon.
Der Boden war bereitet. Dass Hagrid sich nichts sehnlicher wünscht als einen Drachen, konnten alle Harry-Potter-Fans ganz gut nachvollziehen, Harry und seine Freunde jedoch nicht. Die unzähligen magischen Wesen, die Joan K. Rowling einesteils erfunden, anderenteils gut adaptiert hat, haben unser Verständnis der magischen Welt um viele Facetten erweitert. Und Grendel und seine Verwandten möglich gemacht.
Ein verliebter Drache? Warum nicht, wo doch in diesem Slapstick-Roman, dieser Märchen-Comedy von Karen Duve alle Figuren verrückt sind! Der erste Auftritt Grendels: Ritter Bredur und sein Ross Kelpie bemerken ein entsetzliches Ungeheuer, das mit aufgerissenem Maul, dampfenden Nasenlöchern, gelben unvorteilhaft herausquellenden Augen und flatternden Maultierohren auf sie zu galoppiert. Bevor der vor Angst beinahe ohnmächtige Bredur sich zur Wehr setzen kann, ertönt die Stimme von Grendels Herrn: "Keine Angst! Der tut nichts! Der will nur spielen!"
Ach übrigens: Es gibt eine neue Harry-Potter-Parodie: Kate MacMullan hat mit der Drachen Jäger Akademie ein Gegenstück zu Hogwarts erfunden, und mit Wiglaf und seinen Freunden das Gegenstück zu Harry, Ron und Hermine. Und Wiglafs Spezialfeinde, diverse blutrünstige Drachen, können nicht mit Gewalt, sondern nur mit Hilfe ihres sorgsam gehüteten Geheimnisses, ihrer schwachen Stelle, aus dem Verkehr gezogen werden. Wiglafs erster Feind Gorzill verträgt zum Beispiel keine dummen Witze.
Und jetzt Eragon und der liebenswerteste aller Drachen, Saphira. Erfunden von einem US-amerikanischen College-Studenten befreien die beiden das Land Alagaesia gemeinsam mit Elfen und Zwergen und mutigen Menschen von einem verrückten alten grausamen Drachenreiter-König. Zumindest werden sie es tun, denn die Saga ist noch "in statu nascendi", zwei Teile der Trilogie sind schon auf dem Markt, der erste Teil wird gerade verfilmt, am dritten wird geschrieben. Und die Fans aller Altersklassen warten ungeduldig.
Angesichts so vieler netter Drachen drängen sich mir eine Menge Fragen auf: Sind wir heutzutage nicht mehr bereit, "das Böse" zu akzeptieren? Oder wollen wir unseren Kindern mit Hilfe der guten Drachen die Warnung mitgeben: Nichts ist wie es scheint? Und warum gibt es gerade in unserer Zeit eine derartige Fülle von Nebenwelten, magischen Geschöpfen und phantastischen Ereignissen? Ist unsere Realität so unerträglich geworden?
Und dann fällt mein Blick auf meine niedliche kleine Porzellandrachendame, die im letzten Jahr des Drachen auf meinen Schreibtisch geflattert kam und mich und meine Arbeit bewacht. Sie merken: Ich bin von Drachen umgeben - buchmäßig natürlich nur, denn meine Nachbarinnen sind alle reizend! Und ich muss zugeben, ich habe schon schlechtere Gesellschaft genossen!
Buch-Tipps
Michael Ende, "Die unendliche Geschichte", dtv, ISBN 3522128001
Cornelia Funke, "Drachenreiter", Dressler Verlag, ISBN 3791504541
Karen Duve, "Die entführte Prinzessin. Von Drachen, Liebe und anderen Ungeheuern", Eichborn Verlag, ISBN 3821809523
Kate MacMullan, "Drachen Jäger Akademie 1. Der Neue an der Schule", Klopp verlag, ISBN 3781712915
Christopher Paolini, "Eragon. Das Vermächtnis der Drachenreiter", Blanvalet Verlag, ISBN 3442362911
Christopher Paolini, "Eragon. Der Auftrag des Ältesten", CBJ Verlag, ISBN 3570128040