Missbrauch der Geschichte

Antisemitismus als politische Waffe

Mit Akribie zerlegt Finkelstein in seinem neuen Buch die zur bedingungslosen Verteidigung Israels vorgetragenen Aussagen. Allerdings ist auch Finkelsteins rhetorischer Vernichtungsfeldzug seiner eigenen Glaubwürdigkeit nicht förderlich.

Der Umgang mit Schuldgefühlen war schon immer eine heikle Sache. Man muss nicht den brennenden Eifer eines Norman Finkelstein haben, um zu wissen, dass der Vorwurf des Antisemitismus' auch als Waffe eingesetzt wird. Wer Kritik an Israel und seinem Verhalten gegenüber den Palästinensern übt, riskiert zum Antisemiten, gar zum Nationalsozialisten gestempelt zu werden.

In den letzten Jahren wurde parallel zu den militärischen Operationen Israels in den besetzten Gebieten geradezu eine neue "Welle des Antisemitismus" beschworen, die bei näherem Hinsehen niemand ernsthaft bestätigen kann. Was aber deutlich sichtbar bleibt, sind Israels Menschenrechtsverletzungen. Um davon abzulenken, stehe, vor allem in den USA, eine Riege von "Fürsprechern Israels" bereit, immer dann Bedrohungsszenarien für Israel und das Judentum zu inszenieren, wenn sich die öffentliche Meinung gegen Israel zu wenden droht.

Die neue "Schurkengalerie"

Mit der üblichen polemischen Verve stürzt sich Norman Finkelstein auf Journalisten, Kolumnisten, Kommentatoren, Autoren und Vortragende, die als selbst berufene Gesinnungswächter öffentlich Buch über die neue "Schurkengalerie" an "neuen Antisemiten" führen, zu welchen nun auch die Vereinten Nationen, die internationalen Menschenrechtsorganisationen, progressive Feministinnen und sogar jüdische Feministinnen zählen.

Was der Autor an Kommentaren, Glossen und leider auch Berichten aus den renommiertesten Zeitungen zusammenträgt, wirkt tatsächlich wie ein Panoptikum an Absurditäten: Panikmache über eine neue "Endlösung", die angeblich kurz bevor stünde; die Gründung Israels wäre das Produkt einer gesamteuropäischen Verschwörung, die einen zweiten Holocaust plante, indem sie Juden und Palästinenser auf einem schmalen Wüstenstreifen zusammen brachte.

Drei Komponenten

Selbst die namhafte Columbia University wird als Hort des Antisemitismus geortet und einflussreiche jüdische Stimmen fordern sogar die Entlassung von Professoren. Finkelsteins Recherchen ergaben, dass die jeweiligen Universitätsleitungen von den behaupteten Vorwürfen gar nicht informiert waren.

Das, was derzeit als "neuer Antisemitismus" bezeichnet wird, besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten: erstens aus Vorfällen, die übertrieben dargestellt werden oder reine Phantasieprodukte sind, zweitens aus zu Unrecht als antisemitisch bezeichneter berechtigter Kritik an der israelischen Politik, und drittens aus Vorkommnissen, bei denen die Kritik an Israel tatsächlich in allgemeine Kritik an Juden umschlägt, was zwar ungerechtfertigt ist, aber niemanden überraschen kann.

Verteidiger Dershowitz

Eine seiner Propagandastützen findet Israels Politik im bekannten Harvard Professor Alan Dershowitz. Sein 2005 erschienenes Buch "Plädoyer für Israel - Warum die Anklagen gegen Israel aus Vorurteilen bestehen" ist tatsächlich starker Tobak: Ein Harvard Law School Professor hält Israels Menschenrechtsbilanz für "im Allgemeinen herausragend", obwohl die vor Ort beobachtenden Menschenrechtsorganisationen unisono Übergriffe feststellten.

Dershowitz plädiert für eine Lockerung des humanitären Völkerrechts, hält Häuserzerstörungen für gerechtfertigte Kollektivstrafen und bestreitet jegliche Übergriffe israelischer Soldaten.

Die Attentate, die Israel auf die Palästinenser verübt, stellen solche außergerichtlichen Hinrichtungen dar: Demjenigen, dem das Attentat gilt, wird a) das Recht versagt, sich vor Gericht zu verteidigen, obwohl er b) niemandes Leben unmittelbar bedroht, und obwohl es c) möglich wäre, ihn festzunehmen und ihm den Prozess zu machen.

Übers Ziel hinaus

Mit Akribie zerlegt Finkelstein die zur bedingungslosen Verteidigung Israels vorgetragenen Aussagen. Der Harvard-Professor wird der falschen Zeugenaussage beschuldigt, der versuchten Verleugnung von erwiesenen Folterungen vor Gericht, der doppelten Moral und es scheint. Allerdings ist auch Finkelsteins Vorgangsweise, vor allem der rhetorische Vernichtungsfeldzug, seiner eigenen Glaubwürdigkeit nicht förderlich. Wie üblich, tötet er seine Gegner symbolisch, ohne den Sachverhalt gründlich zu klären.

Wenn Munition in palästinensischen Ambulanzwägen transportiert wird, dann sollten Panikreaktionen des israelischen Militärs, die gegen das Völkerrecht auf diese Ambulanzen zielen, zumindest auch aus dieser Perspektive diskutiert werden. Dass Israel diese Gewalt nicht selten selbst produziert, ist eine andere Frage. Doch darum ist es Finkelstein nicht zu tun: Er konzentriert sich auf den Einsatz des Antisemitismus als politisches Instrument und hat darin mit Sicherheit einen richtigen Mechanismus erkannt - der allerdings auch vorher schon gut bekannt war.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Norman G. Finkelstein, "Antisemitismus als politische Waffe. Israel, Amerika und der Missbrauch der Geschichte", aus dem Amerikanischen übersetzt von Maren Hackman, Piper Verlag, ISBN 3492048617