Stell dir vor, es ist Wahl und keiner geht hin

Die Stadt der Sehenden

Eine ironische Grundmischung, gewürzt mit treffenden Seitenhieben auf gesellschaftliche Um- und Zustände, das ist seit das Markenzeichen des portugiesischen Autors, Jose Saramago. Dieser Rezeptur bleibt er auch in seinem neuen Roman treu.

Saramagos Grundidee: Es sind Wahlen und keiner geht hin. Zwar werden nach dem Hilferuf eines Wahlleiters noch einige Stimmbürger erscheinen, doch die Auszählung ergibt, dass 75 Prozent von ihnen leere Stimmzettel abgegeben haben. Diese Ausgangssituation bietet dem Autor Gelegenheit zu allerlei ironischen Apercus.

So beschließt etwa die Regierung des ungenannt bleibenden Landes, die Ursache für die Wahlverweigerung der Bürger der Hauptstadt nicht in der Politik zu suchen, sondern im schlechten Wetter. Eine Wahlwiederholung bringt indes das nämliche Ergebnis: Diesmal sind 80 Prozent der abgegebenen Stimmzettel weiß. Die politische Elite des Landes ist fassungslos.

Fiktive Parabel

Um den fiktiven Charakter seiner Parabel zu betonen, nennt Saramago die politischen Gruppierungen schlicht "Partei der Rechten", "Partei der Linken" und "Partei der Mitte". In leichter Abwandlung bekannter Vorbemerkungen in Romanen oder im Vorspann von Kinofilmen könnte man sagen: Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.

Womit wir uns hier konfrontiert sehen, ist blanker Terrorismus, anderer Ausprägung zwar, doch identisch in seinem Wesenskern, rief der Verteidigungsminister. - Vorsicht mit leichtfertigen Übertreibungen, mischte sich der Justizminister ein, es scheint mir riskant, weiße Stimmzettel als Terrorismus, noch dazu als blanken, zu bezeichnen. - Wir müssen begreifen, jede dieser Stimmen war ein unter Wasser abgefeuerter Torpedo, stammelte der Verteidigungsminister.

Bedrohung der Demokratie

Die Regierung verhängt den Ausnahme-, später den Belagerungszustand über die Hauptstadt, um der angeblichen Bedrohung der Demokratie Herr zu werden. Panzer fahren auf. Grundrechte werden außer Kraft gesetzt. Doch kaum jemand wird überführt, einen leeren Stimmzettel abgegeben zu haben. Hinweise auf das vermutete Komplott gegen den Staat finden sich schon gar nicht. Indessen lassen sich die Menschen kaum beeindrucken. Sie gehen, soweit möglich, ihren üblichen Geschäften nach.

In dieser Situation lässt Jose Saramago eine Figur aus seinem vor zehn Jahren entstandenen Roman mit dem Titel "Die Stadt der Blinden" auftreten: die "Frau des Augenarztes". In diesem Vorgängerroman hatten die Menschen derselben fiktiven Stadt aus ungeklärter Ursache für einige Wochen ihre Sehkraft eingebüßt. Das aktuelle Buch "Stadt der Sehenden" ist allerdings keine direkte Fortsetzung des früheren Werks, obwohl sich Saramago auf einige Motive und Personen aus "Die Stadt der Blinden" bezieht.

Herr Premierminister, sagte der Kulturminister, ich darf daran erinnern, dass wir blind waren, und vielleicht immer noch blind sind: dass das Weißwählen vielleicht ebenso eine Erscheinungsform der Blindheit ist, wie jene andere. - Oder aber der Hellsichtigkeit, rief der Justizminister. - Wie bitte, fragte empört der Innenminister. - Ich meine, das Weißwählen könnte von jenen, die sich dieses Mittels bedienen, als Ausdruck der Hellsichtigkeit gewertet werden, antwortete der Justizminister. - Wie können Sie es wagen, in diesem Ministerrat eine solch antidemokratische Ungeheuerlichkeit auszusprechen, platzte der Verteidigungsminister heraus.

Beschwingt-ironische Poesie

Mit feinem Ohr belauscht Saramago die Sitzungen der Regierung, mit unerbittlicher Präzision entlarvt er die regierungsamtlichen hohlen Phrasen und leeren Floskeln, wie sie in den demokratischen Staaten Europas Gang und Gäbe sind. Er stattet die grotesk-unsinnigen Wortmeldungen überdies mit der ihm eigenen beschwingt-ironischen Poesie aus.

Jose Saramagos Roman ist eine Parabel über die Zerbrechlichkeit nur scheinbar fest gefügter staatlicher Institutionen. Mit ironischem Raffinement und nicht zuletzt mit altersweiser Gelassenheit beschreibt der mittlerweile 84-jährige Portugiese den Zerfall von Moral und Rechtsstaatlichkeit, vor allem aber die rasche Erosion des vernünftigen, demokratischen Gebrauchs der Macht in einer Situation der politischen Ratlosigkeit. Mit "Die Stadt der Sehenden", wird Jose Saramago seinem Ruf als Literatur-Nobelpreisträger gerecht.

Service

Jose Saramago, "Die Stadt der Sehenden", aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis, Rowohlt Verlag, ISBN 3498063847