Amerika und das Erdbeben von San Francisco 1906
Ein Riss durch die Welt
Simon Winchester rekapituliert nicht nur das Desaster von 1906, er führt auch in die Geheimnisse der Erdgeschichte ein und gibt wie nebenbei einen Einblick in die Mysterien der Plattentektonik. Das alles kommt unterhaltsam und niemals belehrend daher.
8. April 2017, 21:58
Gemessen an der Zahl der Todesopfer - die Angaben schwanken zwischen 480 und 3000 - zählt das Beben von San Francisco keineswegs zu den verheerendsten der Geschichte. Dennoch hat die Katastrophe, wie später der Untergang der "Titanic", eine gleichsam Mythen bildende Kraft entwickelt.
Der Fortschrittsenthusiasmus des 20. Jahrhunderts erhielt gleich zu Beginn des Säkulums einen kräftigen Dämpfer. Zugleich leitete das Desaster von 1906 einen dramatischen Bedeutungsverlust der damals 400.000 Einwohner zählenden Stadt an der San Francisco Bay ein: War Frisco bis dahin die Metropole Kaliforniens, wurde es in den folgenden Jahren vom geologisch etwas günstiger gelegenen Los Angeles abgelöst.
Geheimnisse der Erdgeschichte
Der Sachbuchautor Simon Winchester versteht sein Metier. Auf 450 Seiten rekapituliert der britische Populärwissenschaftler nicht nur das Desaster von 1906 aufs Minutiöseste, er führt den staunenden Leser auch in die Geheimnisse der Erdgeschichte ein, gibt wie nebenbei einen Einblick in die Mysterien der Plattentektonik und weiß auch Erhellendes über die Sozial- und Siedlungsgeschichte Kaliforniens zu erzählen. Das alles kommt süffig und unterhaltsam, niemals belehrend daher.
Ein Erdbeben wie das Kalifornische von 1906 führt dem Menschen seine elementare Zerbrechlichkeit, seine Ohnmacht vor den chthonischen Gewalten vor Augen. Dieser Ohnmacht musste sich auch Enrico Caruso stellen, der sich am 18. April 1906 in San Francisco aufhielt. Abends hatte der gefeierte Tenor noch im Opernhaus die Rolle des Don Jose in "Carmen" gesungen, morgens stapfte er schon, so wollen es Augenzeugen beobachtet haben, im Pelzmantel über die rauchenden Trümmer der Stadt und fluchte leise vor sich hin.
Katastrophale Folgeschäden
Es war nicht so sehr das Erdbeben selbst, das die "goldene Stadt" am Pazifik in einen Tanzplatz des Teufels verwandelte, es waren die Feuerstürme danach. Simon Winchester hat rekonstruiert, was geschah: Sekunden, nachdem der erste Erdstoß die Stadt aufs Wahnwitzigste durchzurütteln begann, platzten sämtliche Wasserrohre. Überall in der Stadt knickten Strommasten ein, Hochspannungsleitungen stürzten herab und sprühten Funken. Gasleitungen explodierten, Brennstofftanks barsten, Tonnen von Heizöl, Kerosin und Benzin ergossen sich in die Straßen, netzten die brutzelnden Drähte, lösten gewaltige Brände aus.
In kürzester Zeit wuchsen sich die verschiedenen Brandherde zu einer zweieinhalb Kilometer langen Feuerwand aus. Drei Tage lang wütete das das Feuer, dann fand es keine Nahrung mehr und verebbte. Das Ergebnis: 225.000 Obdachlose - eine Stadt in Schutt und Trümmern.
Populärwissenschaft in bester Tradition
Simon Winchester hat ein spannendes Buch geschrieben, ein Buch wie einen überdimensionalen "Scientific American"-Artikel. Populärwissenschaft in bester angelsächsischer Tradition eben. Leider muss der Autor auch mit unangenehmen Facts aufwarten: San Francisco liegt nach wie vor am San-Andreas-Graben, einer tektonisch unerhört brisanten Region, an der die pazifische und die nordamerikanische Platte zusammenstoßen. Das heißt: Das nächste Super-Beben kommt bestimmt. Alles nur eine Frage der Zeit. Bleibt zu hoffen, dass Statiker und Architekten ihre Kompetenzen seit 1906 dramatisch erweitert haben. Damals knickten Monumentalgebäude wie die "Grace Cathedral" und das pompöse Rathaus, der Stolz der Stadtväter, wie Zündholzhäuschen in sich zusammen.
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Buch-Tipp
Simon Winchester, "Ein Riss durch die Welt. Amerika und das Erdbeben von San Francisco 1906", aus dem Englischen übersetzt von Harald Stadler, Knaus-Verlag, ISBN 3813502406
Link
Z Publishing - 1906 San Francisco Earthquake and Fire