Der genormte Mensch

Sind wir nur Bio-Maschinen?

Der Körper als Uhrwerk. Wenn etwas klemmt, wird geschmiert. Mechanistische Metaphern wie diese scheinen auch das Körperbild der Biowissenschaften zu charakterisieren - oder zumindest jenes Bild, das Genetik oder Neurowissenschaften vermitteln.

Die Vorstellung vom Funktionieren des Körpers prägt unser Menschenbild stark. Schönheitsindustrie oder die zahlreichen Lehren vom gesunden Leben versprechen im Grunde nichts anderes, als dass wir nur an der richtigen Schraube drehen müssen, damit unser Leben ins Lot kommt - damit wir wieder funktionieren - wie ein Uhrwerk.

Diese oft unbewussten Metaphern haben Konsequenzen bis weit in Politik und Wirtschaft hinein. Uhrwerke brauchen keine politische Gestaltung, sie sind für sich selbst verantwortlich, und Uhrwerke sind austauschbar.

Wenn etwas klemmt wird eine Pille geschluckt

Der Mensch erscheint hauptsächlich als defizitäres Wesen, irgendwo klemmt immer etwas. Durch das Verständnis vieler biomechanischer Prozesse lassen sich derlei Mängel zum Beispiel durch die Gabe von maßgeschneiderten Molekülen korrigieren. Der prominente englische Hirnforscher Steven Rose führt als Beispiel das Medikament Ritalin an, mit dem in Amerika rezeptfrei die so genannte Hyperaktivität behandelt wird.

"Ritalin ist aber auch ein Neuro-Verstärker, es verstärkt Aufmerksamkeit und Konzentration, damit die Leute leichter mit Prüfungssituationen oder der Schule fertig werden, obwohl es eigentlich zur Behandlung einer Störung dient - wobei sich viele von uns fragen, ob es dieses Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom überhaupt gibt", sagt Rose.

Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, dass wir uns in Richtung einer pharmakologisch bestimmten Welt bewegen. Wir gewöhnen uns daran, gegen alles Medikamente zu nehmen. Unser Alltag wird immer mehr zum Defizitmodell, das sich ständig chemischer Korrekturen bedienen muss, um unserer Vorstellung von Normalität zu genügen.

Auf der Suche nach dem "Normalen"

So gesehen scheint es logisch, dass die Biowissenschaften auch den normalen Körper definieren wollen. Dazu gehört zum Beispiel die Absicht eines Amerikaners, 4000 Gehirne zu vermessen; der Durchschnitt dieser Gehirne ist dann das normale Gehirn. Hirnforscher Steven Rose will die Definition, was "normal" ist, aber nicht den Biowissenschaften überlassen:

"Was gesellschaftlich akzeptabel ist und wo wir Kontrolle ausüben müssen oder eine Person als krank bezeichnen, um sie zu behandeln und ihr Verhalten oder ihr Gehirn zu verändern: das zu entscheiden, ist eine gesellschaftliche Frage - eine sehr komplizierte natürlich, in die die Biologie eingebunden werden kann, aber zusammen mit der Gesellschaft", meint der Hirnforscher. Denn letztendlich könnte es durch eine mechanistische Definition dessen, was normal ist - entweder über Gehirnbilder oder über Genkarten - zu einer Eugenisierung des Alltags kommen.

Der Mensch ist auch ein soziales Produkt

Dass der Mensch auch ein soziales Produkt ist und ganz wesentlich von seiner Umwelt abhängt, gerät zunehmend in Vergessenheit. Wenn wir es aber den Biowissenschaften überlassen, zu definieren, was "normal" ist, kann sich auch die Politik aus dem Gestalten zurückziehen - schließlich scheint der Mensch dem neuen Bild entsprechend weitgehend determiniert:

Aus unserer biologischen Struktur - etwa unserer genetischen Grundverfassung und damit der Fixierung unseres Körpers innerhalb eines gewissen Rahmens - leiten manche ab, dass es keine Sozialpolitik mehr braucht, die zum Beispiel soziale Ungleichheiten korrigiert. Es sei ja alles auf unseren Genen festgeschrieben, so eine herrschende Platitüde.

Hirnforscher Steven Rose hält dem entgegen: "Biologen, Genetiker oder Neurowissenschafter neigen dazu, zu glauben, sie verstünden, was den Menschen ausmacht. Ich würde hingegen gerne darauf hinweisen, dass wir als Menschen Bio-Soziale Wesen sind. Wir können unser Gehirn und unseren Verstand nicht vom Kontext trennen, nicht von der Gesellschaft, in der wir aufwachsen und in der wir leben. Wir sind deshalb nicht einfach das Produkt unserer Gene. Wir sind das Produkt einer sehr komplexen sozialen und biologischen Entwicklung, in der alles gleichzeitig passiert. Wenn wir alles aufs Biologische reduzieren, dann tun wir so, als hätten wir keine menschliche Verantwortung mehr. Das ist ein sehr gefährlicher Weg."

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 10. April 2006, 19:05 Uhr

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