Vom Verweigerer zum Verweigerten
Chlor
Johannes Gelichs Buch ist das Tagebuch einer Krise. Es zeigt, wie unmittelbar der wirtschaftliche Absturz mit dem persönlichen verbunden ist. Wenn sich der Mensch über Leistung definiert, was bleibt dann über, wenn er plötzlich nichts mehr leistet?
8. April 2017, 21:58
Hans entscheidet sich für eine parasitäre Existenz.
Hans taucht unter. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dass er gekündigt wurde, erzählt er niemandem. Stattdessen verbringt er seine Tage im Hallenbad, verlässt morgens - wie immer - die Wohnung und kommt am Abend wieder zurück. Er tauscht den Bürotisch mit Blick auf die Donau gegen eine verflieste Treppe im Stadthallenbad mit Blick auf die Turmspringer, Synchronschwimmerinnen und Kanufahrer. Der Schock hält sich dabei in Grenzen, denn viel ändert sich dabei für ihn nicht: Die tägliche Arbeit in der Firma bestand hauptsächlich darin, Geschäftigkeit vorzutäuschen. Also so zu tun, als ob er arbeiten würde, und dafür seinen Lohn zu kassieren. Jetzt wird er für die Inszenierung von Arbeit eben nicht mehr bezahlt.
Passive Revolution
Dass Johannes Gelich eines seiner Kapitel mit einem Zitat aus Corinne Maiers "Entdeckung der Faulheit" beginnt, verwundert nicht: Wie sie beschreibt er die Arbeit seines Protagonisten in einer großen Firma als Art passive Revolution, als Anpassung an ein Leistungssystem, das keine persönliche, individuelle Einbringung mehr benötigt, ja gar nicht duldet.
"Es ist ja nicht so, dass man immer Leistungsverweigerer war", findet Johannes Gelich. "Wenn man feststellt, dass Leistung nichts einbringt, dann zu sagen 'Ich hab' keine Lust mehr', das entspringt eigener Karriereerfahrung."
Wie ein Quastenflosser
Wenn sich der Mensch über die Leistung definiert, was bleibt dann über, wenn er plötzlich nichts mehr leistet? Wenn sich ein Spezialist für Kommunikation und Wording dazu entschließt, stumm wie ein Fisch zu werden? In den monotonen, trostlosen Beschreibungen der vielen Tage im Hallenbad schwimmt der Autor rückwärts in der Evolution, er macht einen Schritt von der Leistungsgesellschaft zurück ins Wasser. Indem er seine Hauptfigur mit einer fast fanatischen Liebe zur Meeresbiologie ausstattet, werden die Beobachtungen und Gedankengänge zum Spiel mit Analogien.
"Eine wichtige Ebene ist der Quastenflosser", erzählt Gelich. "Er ist das älteste Wirbeltier und hat sämtliche Evolutionskrisen überlebt. Er ist zwei Meter lang, braucht ein Radl Wurst täglich und bewegt sich kaum. Er lebt nachhaltig. Diese Analogie wichtig: sich reduzieren, um zu sehen: Die Hochleistungsgesellschaft ist das Gegenteil vom Quastenflosser; der hat überlebt, weil er das Gegenteil gemacht hat. Wir sind von Klimakatastrophen und Ähnlichem bedroht."
Keine Alternative
"Chlor" ist ein - teilweise sehr langatmiges - Tagebuch einer Krise. Es zeigt, wie unmittelbar der wirtschaftliche Absturz mit dem persönlichen verbunden ist.
Mein Leben bietet keine Alternative, ich kann nichts Besseres vorweisen als meinen eigenen Krieg. Ich müsste erst diesen Krieg beenden. Aber ich kenne noch nicht einmal die Kriegsparteien genau.
Damit macht Gelich deutlich, dass es sich bei seinem Buch um keine kuschelige Aussteigergeschichte in Badeschlapfen handelt. Für die Hauptfigur Hans ist das Untertauchen die einzig mögliche Alternative. Für den Autor Johannes Gelich existiert noch ein anderer Weg: "Sich nicht der Karriereillusion blind hingeben, das spielt's nicht und führt nur zu Frustrationen im Privatleben."
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Johannes Gelich, "Chlor", Droschl Verlag, ISBN 3854206992