Der Berg oder ich

Unterwegs in dünner Luft

Man sieht seine Füße gehen, man sieht die Berglandschaft, aber woher der Körper die Kraft noch hat, ist ein Rätsel. Nikolaus Scholz schleppte sich - oder seine Füße ihn - auf den höchsten Berg der Türkei, den Ararat.

4.143 Meter über Meeresniveau zeigt der Höhenmesser auf dem Armgelenk von Michael Falkensammer, einem Arzt aus dem oberösterreichischen Thalheim. Er ist einer von 13 Bergwanderern, die auf den Gipfel des Ararat wollen. Wenigstens er ist gut durchtrainiert, hat die notwendige Bergerfahrung und die erfolgreiche Besteigung des Kilimandjaro (5.895 Meter) bereits hinter sich. Nicht so wie ich. Habe mir erst 14 Tage vor Beginn der Reise steigeisentaugliche Bergschuhe gekauft, wie vom Reiseveranstalter ASI (Alpinschule Innsbruck) empfohlen wurde. Ein Wunder, dass ich noch keine Blasen an den Füssen habe.

Auf 4.143 Meter Seehöhe liegt das Hochlager der Gruppe: Kleine Zwei-Mann-Zelte auf gerölligem Untergrund. Die Luft ist dünn, aber die Stimmung großartig. Zumindest in dem Augenblick, als sich nach einem kurzen Schauer ein Regenbogen über das Tal unter uns spannt. Hinter uns liegen zwei Tage der Akklimatisation, vor uns der Gipfelsturm. Rund 1.000 Höhenmeter werden zu bewältigen sein. Engelbert Leitner, Tiroler Bergführer, kündigt den Aufbruch für zwei Uhr früh an. "Damit alle bei Sonnenaufgang am Gipfel sind". Er hat wirklich ein sonniges Gemüt.

Die anbrechende Nacht verheißt nichts Gutes. Es beginnt zu hageln, die Lufttemperatur sinkt unter Null. Jeder verkriecht sich in seinem Schlafsack. Zum Glück halten die Zelte dicht. Mir kommt Bruce Chatwins Buch mit dem Titel "Was mache ich hier" in den Sinn. Genauso fühle ich mich jetzt.

Zwei Uhr Früh. Es hat aufgeklart. Sternenklare Nacht. Eisige Luft. Nach einer heißen Instantsuppe geht es bergwärts, Schritt für Schritt. Von der Ferne machen sich die Wanderer mit ihren angeknipsten Helmlampen wie Glühwürmchen aus. Kaum ein Wort wird gesprochen. Nur tief geatmet.

Auf 4.500 Meter steigen die Ersten aus und brechen den Anstieg ab. Kopfweh, Übelkeit, Erbrechen: Anzeichen der Höhenkrankheit. Engelbert Leitner rät zur Umkehr. Der größere Teil der Gruppe setzt seinen Marsch in der Dunkelheit fort und ich habe mich dem Wahnsinn angeschlossen. Bereits 200 Meter höher bereue ich meine Entscheidung. Ich kann nicht mehr. Mein Puls rast wie bei einem 100-Meter-Sprinter und meine Kondition ist parterre. Wer jetzt stehen bleibt, hat verloren. Und ich bleibe stehen. Der Körper kühlt rasch aus in so großen Höhen und die Beine werden bleischwer.

Einzig der Bergführer kann mich zum Gehen motivieren. Wie ein willenlos gewordenes Tier lasse ich mich führen. Auf 5.000 Metern: ein harschiges Schneefeld bis zum Gipfel. Keine Kraft mehr, die Steigeisen allein anzulegen. Die, die noch Energie haben, helfen den anderen. Michael Falkensammer, der Arzt, reicht mir einen Becher Tee aus seiner Thermoskanne.

Den Marsch auf dem Schneefeld erlebe ich wie in einem Traum. Meine Füße gehen, meine Augen sehen meine Füße, wie sie gehen, aber ich weiß nicht, woher die Füße die Kraft nehmen, zu gehen. Irgendwie haben dann alle den Gipfel erreicht. Aber der will sich an diesem Morgen nicht von seiner freundlichen Seite zeigen und hüllt sich in einen feuchtgrauen Schleier. Erst, Stunden später, im Basislager, zeigt sich der Berg versöhnlich. Sein Gipfel präsentiert sich wolkenlos wie nie zuvor.

Hör-Tipp
Ambiente, Sonntag, 2. April 2006, 10:06 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Link
Wikipedia - Ararat